Bernd Stiegler
Eine neue Website zur Geschichte der Fotografie
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 143, 2017
Eine neue Website zeigt eine andere Geschichte der Fotografie: eine Geschichte in Manifesten von 1839 bis zur Gegenwart. Texte, Dokumente, Bilder und vieles mehr sind dort versammelt – durchsuchbar nach Namen, Ländern, Techniken und anderen Kriterien. Bisher sind dort etwa 50 Positionen versammelt, die Website hat aber eine offene Struktur und könnte – im Rahmen der urheberrechtlich gesetzten Grenzen – erweitert werden.
Warum nun aber gerade Manifeste? Sie sind eine besondere Textform, die auf programmatische Bestimmungen zielt. Daher geht es immer wieder neu um die Grundlagen der Fotografie und des Fotografischen. Seit ihrer Erfindung vor mehr als 175 Jahren haben Künstlerinnen und Künstler immer wieder die Fotografie hinterfragt: Sie haben Arbeiten und Texte geschaffen, die sich mit unterschiedlichen Aspekten der Fotografie auseinandersetzen: ihrer Materialität und Popularität, ihrer publizistischen Macht und ihrem Anspruch auf Objektivität. Heute, mit dem zunehmenden Verschwinden des Analogen und dem Siegeszug des Digitalen, gewinnen diese Positionen und Überlegungen eine ganz neue Aktualität.
Das Projekt fotomanifeste.de nimmt diese historischen Beziehungen zwischen der Fotografie und dem Manifest in den Blick. Es zeigt was geschieht, wenn Fotografinnen und Fotografen sich schriftlich im Namen ihres Mediums engagieren – dabei stammen die radikalsten Äußerungen über die Fotografie oftmals von den Bildautoren selbst. Fotomanifeste.de vereint Stellungnahmen aus der gesamten Geschichte der Fotografie, von 1840 bis heute und ergänzt den Text durch Bilder, biografische Angaben, Weblinks und weiteren Dokumenten. So entsteht eine Sammlung aus vielen programmatischen Stimmen, die eine wilde und ironische, melancholische und manchmal wütende, aber stets hoffnungsfrohe Geschichte über das Medium erzählen. Als Zusammenspiel von Vergangenheit und Gegenwart macht fotomanifeste.de sichtbar, wie sich das Medium auf vielfältige Weise neu erfindet, indem immer wieder eine andere Zukunft ausgerufen wird.
Die Manifeste dieser Website beschränken sich dabei auch nicht auf die Zeit der Avantgarden, die fraglos die historisch höchste „Manifestdichte“ aufweist. Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts wurden programmatisch eben auch von publizistischen Paukenschlägen begleitet: von wegweisenden Büchern, Zeitschriften und Radiobeiträgen, die dazu aufriefen, die Welt durch das Medium neu wahrzunehmen und sie zugleich zu verändern. In unterschiedlichen Publikationsformen offenbart sich die Sprengkraft der Avantgarde und die gestalterischen und typografischen Innovationen, die für die Revolution der Ästhetik so zentral waren. Aber die fotografischen Manifeste haben eben auch eine aufregende Vorgeschichte im 19. Jahrhundert, als Fotografen über die Bedeutung der Fotografie für die visuellen Künste stritten oder denjenigen trotzige Ratschläge erteilten, die die Eigenheiten der fotografischen Praxis ignorierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm das fotografische Manifest eine subjektive Wende, bevor es im Zeichen von 1968 seine politische Stimme wiederfand, und vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Umbruchs eine neue Bedeutung für die Fotografie proklamiert wurde. Und in der Gegenwart entdeckte man last but not least neue Ausdruckformen, stritt über die gesellschaftliche Rolle der Fotografie oder entwickelte neue Richtungen wie etwa die abstrakte, generative und konkrete Fotografie.
All diese Positionen sind auf hier vertreten und werden mit detaillierten zusätzlichem Materialien vorgestellt. Berücksichtigung fanden dabei auch manifestartige Texte u.a. aus dem Bereich der Wissenschaften, der Künste, aber auch des Spiritismus, der sozialdokumentarische Fotografie, des Piktorialismus oder der Gegenwartskunst. Ausgewählt wurden wirkmächtige Positionen, die über ihre jeweilige Zeit hinaus eine besondere Strahlkraft entwickelten. Aus urheberrechtlichen Gründen ist die Fotografie des 20. und 21. Jahrhunderts weniger breit vertreten. Gleichwohl finden sich dank der Kooperation und Unterstützung von zahlreichen Fotografinnen und Fotografen bzw. ihren Rechteinhabern wichtige exemplarische Positionen von Moholy-Nagy, über Krull und Heartfield bis hin zu Jäger, Kippenberger, Müller-Pohle, Schmid und Wall.
Die Website fotomanifeste.de entstand in Kooperation zwischen der Universität Konstanz, dem Museum Folkwang Essen und dem Fotomuseum Winterthur. Sie geht zurück auf die Ausstellung Manifeste! Eine andere Geschichte der Fotografie, die vom 14. Juni bis 17. August 2014 im Museum Folkwang Essen und vom 13. September bis zum 23. November 2014 im Fotomuseum Winterthur zu sehen war. Zur Ausstellung erschien seinerzeit ein Katalog: Manifeste! Eine andere Geschichte der Fotografie, hg. v. Museum Folkwang Essen / Fotomuseum Winterthur, Göttingen: Steidl 2014. Die eigentliche Homepage Fotomanifeste.de wurde dann im Rahmen eines Projektseminars an der Universität Konstanz erarbeitet, das unter der Leitung von Bernd Stiegler und Kathrin Schönegg im Wintersemester 2014/2015 stattfand. Sie ist konzipiert als ein strukturell offenes Projekt, das jederzeit erweitert werden kann – etwa in Gestalt von weiteren Projektseminaren an anderen Orten.
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