Anton Holzer
Eine Gegen-Geschichte der Fotografie
Dokumentarismus und Sozialkritik in den 1970er und 80er Jahren
Jorge Ribalta (Hg.): Not yet. On the reinvention of documentary and the critique of modernism. Essays and documents (1972–1991), Madrid: Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, 2015, Engl. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia in Madrid, 10. Februar bis 13. Juli 2015, 349 S., 23 x 17 cm, zahlreiche Abb. in S/W und Farbe, kartoniert, 35 Euro. Bestellung: http://www.museoreinasofia.es (ISBN: 9788480265089)
Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 138, 2015
Die Geschichtsschreibung der Fotografie beruht auf vielen – oft unausgesprochenen – Vorannahmen. Dieses Thesen betreffen eine oft unhinterfragte Chronologie der Ereignisse, eine hie und da recht sorglos fortgeschriebene Ahnenreihe großer (meist männlicher) Protagonisten, aber auch Annahmen über die Ästhetik der Bilder, über angeblich herausragende Arbeiten (sogenannte Highlights), über wertvolle und weniger wertvolle Fotoarbeiten, über ästhetische Einflüsse und längerfristige Tendenzen in der Fotografie. All diese Wertungen und Behauptungen ergeben in Summe ein dichtes fotohistorisches Bild, das in Publikationen und Ausstellungen fortgeschrieben wird. In der Regel handelt es sich um ein tendenziell konservatives Interpretationsmodell, das mit dem herrschenden internationalen Kunstdiskurs und dem Kunstmarkt kompatibel ist.
Gewiss, es gab und gibt immer wieder Versuche, diese Mainstream-Fotogeschichte kritisch zu hinterfragen. Denken wir nur, um einige wenige Beispiele aus dem anglo-amerikanischen Bereich zu nennen, an Abigail Solomon-Godeau, die über Jahre hinweg die herrschende Fotogeschichte aus einer institutionenkritischen, feministischen Perspektive in Frage gestellt hat. Oder an Rosalind Krauss, die die Theoriegeschichte der Fotografie unter einem neuen Blickwinkel darstellte. Oder an Allan Sekula und Martha Rosler, die in ihren theoretischen und künstlerischen Arbeiten auf blinde Flecken der herrschenden Überlieferung aufmerksam machten. Oder an John Tagg, der Verbindungen zwischen Fotografie, staatlichen (Überwachungs-)Interessen und kapitalistischem System thematisierte. In der jüngsten Zeit ist diese sich politisch meist links positionierende Kritik der Fotografie ein wenig erlahmt. Es ist nicht verwunderlich, wenn nun, nach den weltweiten Erschütterungen des Wirtschafts- und Finanzsystems, nicht nur in der Gesellschaftsanalyse, sondern auch in der Medien- und Fotografiegeschichte neue, kritische Akzente zu verzeichnen sind.
Der spanische Fotohistoriker, Kurator und Autor Jorge Ribalta gehört zweifellos zu den wichtigsten, auch international gut vernetzten und anerkannten, gesellschaftskritischen Theoretikern der Fotografie. Seit vielen Jahren stellt er in seinen Ausstellungen und Publikationen den konservativen Mainstream in der Fotografiegeschichte in Frage und lotet alternative, weniger bekannte Stränge der Fotoentwicklung aus. Bereits 2004, lange bevor 2008 die globale Wirtschaftskrise einsetzte, hat er unter dem Titel Efecto real einen (spanischsprachigen) Band mit kritischen Positionen zur Fotogeschichte zusammengestellt. 2009 folgte dann in Barcelona unter dem Titel „Public photographic spaces. Exhibitions of Propaganda from PRESSA to Family of Man 1928– 1955“ eine vielbeachtete Ausstellung (mit englischsprachigem Katalog[1], die die Geschichte wichtiger Fotoausstellungen in den 1930er, 40er und 50er Jahren in einen breiteren gesellschaftspolitischen Kontext stellte. Bereits dieses Projekt zeichnete sich dadurch aus, dass Ribalta nicht „große“ Fotografen und ihre Bilder in den Mittelpunkt stellte, sondern Fotografie als Produkt eines Medien- und Gesellschaftssystems analysierte. Zu sehen waren daher auch (seltene) Einblicke in historische Ausstellungen, Kataloge, Broschüren und Publikationen, also jenes Material, das oft als erklärendes Material im Schatten der wertvollen „Vintage prints“ steht. Für Ribalta war, das folgt aus seiner Analyse, der fotografische Mainstream, wie er etwa in der humanistischen Propagandaausstellung „Family of Man“ (1955) zum Ausdruck kam, keineswegs naturgegeben, sondern das Ergebnis politischer Kämpfe und Interventionen (Kalter Krieg, Interessen des US-Außenministeriums etc.). Das humanistische Credo, das sich um die Mitte des 20. Jahrhunderts von den USA aus international durchsetzte, war, so Ribalta, eng mit neoliberalen und konservativen gesellschaftspolitischen Positionen verbunden.
In einer weiteren großen Ausstellung, die 2011 im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia in Madrid gezeigt wurde, beschäftigte sich Ribalta konsequenterweise mit der Vorgeschichte dieser humanistischen Epoche der Fotografie, nämlich mit der internationalen Geschichte der Arbeiterfotografie der 1920er und 30er Jahre. Auch zu dieser Schau entstand ein international breit rezipierter englischsprachiger Katalog.[2]Ribaltas These: Die Ära des gesellschaftskritischen Dokumentarismus ging in den 1930er Jahren nicht einfach zu Ende, sondern wurde vielfach gewaltsam (etwa durch diktatorische Regimes, Kriege und Bürgerkriege) beendet. Die humanistische Epoche der Fotografie, die in mancherlei Hinsicht ihr Erbe angetreten hat, war, so Ribalta, als ideologische Gegenhaltung zu emanzipatorischen und linken Projekten der Zwischenkriegszeit entstanden.
In seiner jüngsten Ausstellung, die 2015 wiederum im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia in Madrid zu sehen war, knüpft Ribalta an die Recherchen zur emanzipatorischen Fotografie der Zwischenkriegszeit an und untersucht die sozialkritische dokumentarische Fotografie, die in den 1970er und 80er Jahren (teilweise in dezidierter Gegnerschaft zur humanistische Fotografie) entstand. Nicht zufällig ist der englischsprachige Begleitband, der den Titel Not yet. On the reinvention of documentary and the critique of modernism. Essays and documents (1972–1991) trägt, Allan Sekula, einem wichtigen US-amerikanischen Fotothheoretiker und sozialkritischen Fotografen gewidmet, der 2013 starb. Wie bereits in seinem Projekt zur Arbeiterfotografie der Zwischenkriegszeit verbindet Ribalta in seiner neuen Publikation auf produktive Weise systematische Recherche und fundierte Kritik. Wiederum geht es ihm darum, die herrschende Fotogeschichtsschreibung mit seiner kritischen „historiography against the grain“ herauszufordern und die Wurzeln einer verschütteten Fototradition freizulegen. Wie schon in seinem Vorgängerbuch legt der Autor seine Recherche dezidiert international an. Er rekonstruiert das soziale und politische Aufbegehren in der Fotografie (aber auch in der universitären und außeruniversitären Fotoausbildung, in Museen und Sammlungen), das in einigen Ländern mit der 68er Bewegung einsetzte und teilweise bis in die 1980er Jahre andauerte.
Vorgestellt werden die emanzipatorischen Aufbruchsbewegungen in Ländern wie Deutschland, USA, England, Mexiko, Italien und Südafrika, die sehr unterschiedliche thematische und politische Agenden verfolgten. Am deutlichsten äußerte sich die historische Kontinuität in der zweiten Welle der Arbeiterfotografiebewegung in der Bundesrepublik Deutschland, die in den frühen 1970er Jahren einsetzte und (parallel zu ähnlichen Anstrengungen in der DDR) unter anderem eine Wiederentdeckung der Arbeiterfotografiebewegung der Zwischenkriegszeit mit sich brachte, sich aber auch mit sozialen Brennpunkten der Gegenwart beschäftige. Die neue, junge Generation der Arbeiterfotografie operierte in teilweise autonomen Zirkeln in mehreren Städten Deutschlands. Als eine Art organisatorisches und publizistisches Dach fungierte die 1973 ins Leben gerufene Zeitschrift Arbeiterfotografie, die zeitweise von der DDR mitfinanziert wurde. Es gab aber auch andere aufmüpfige Traditionen in der deutschen Fotografie, die sich teilweise mit der neuen Arbeiterfotografie verbündeten, etwa fotografische Stadteilprojekte und sozialdokumentarische Bürgerinitiativen, wie sie beispielsweise von Jörg Boström und Roland Günter mitorganisiert wurden, oder die Zeitschrift Volksfoto, die zwischen 1976 und 1981 erschien und anonyme Formen der Amateurfotografie, ephemere Bilder und Knipserfotos thematisierte.
Ganz anders verlief die Aufbruchsbewegung in der US-amerikanischen Fotografie, deren Vertreter sich in unterschiedlicher Form gegen den etablierten Mainstream wendeten, aber kaum Anschluss an etablierte Parteien oder politische Bewegungen der Gegenwart suchten. Wenn schon, einte die linken US-Fotografen dieser Jahre die vehemente Ablehnung des Vietnamkriegs. Wenn man sich historisch rückbesann, dann auf die sozialkritische Fotografie der Zwischenkriegszeit, etwa in Form der Farm Security-Fotografen der 1930er Jahre, deren Ausläufer spätestens im Kalten Krieg und in der McCarthy-Ära erstickt worden waren. 1971 widmete etwa das Museum of Modern Art Walker Evans eine große retrospektive Ausstellung, 1972 kam einer erste umfassende Monografie zu Roy Stryker, dem Leiter der fotografischen Kampagne der Farm Security Administration (FSA) heraus, 1974 begann Martha Rosler ihre bahnbrechende Fotodokumentation der Bowery in New Yorks Lower East Side, einige Jahre später veröffentlichten Rosler und Sekula ihre ersten vielbeachteten, kritischen Aufsätze in der Zeitschrift Artforum. Um 1980 begann Susan Meiselas, die einige Jahre als Fotoreporterin für große Magazine gearbeitet hatte, sich vom mainstream des Fotojournalimsu abzuwenden und in Form von Ausstellungen, Fotobüchern, Filmen und künstlerischen Interventionen neue, andere, kritischere Wege in der Berichterstattung zu gehen.
Wieder andere Gewichtungen finden wir in der sozialkritischen italienischen Fotografe der 1970er Jahre, die sich im Windschatten der 68er Bewegung und der breit gefächerten außerparlamentarischen Linken, vor allem institutionenkritisch gab. In den 1970er Jahren entstanden beispielsweise wegweisende italienische Fotoreportagen und Fotobücher über die Situation in psychiatrischen Institutionen, die sich für die Öffnung dieser gefängnisartigen Einrichtungen einsetzten. In England wiederum knüpften mehrere Gruppen an die sozialkritische Fotografie der Zwischenkriegszeit an. Die bedeutendste englische Alternativgruppe in der Fotografie der 1970er und 80er Jahre war der von Jo Spence und Terry Dennet 1974 mitgegründete Photography Workshop in London und die damit verbundene Zeitschrift Camerawork, die zwischen 1976 und 1985 erschien und es auf 32 Nummern brachte. Das Besondere an dieser losen Gruppierung war, dass sie politisches Engagement, historische Recherchen, lokale und regionale Fotoprojekte in der communitiy und (im Unterschied zu vielen anderen Gruppen) auch eine intensive theoretische Auseinandersetzungen zu verbinden suchten. Besonders deutlich zum Ausdruck kommt diese Klammer im Buchprojekt Photography/Politcs: One, das 1979 erschien und bis heute als Meilenstein emanzipatorischen Fotografie rezipiert wird. Während ein Gutteil der fotografischen Aufbruchbewegungen am Kontinent an herkömmlichen Themen und Zugängen festhielt und meist von Männern dominiert war, war das in dieser englischen Gruppe teilweise anders. Ihre Mitglieder stellten sich – u.a. in programmatischen Texten in Camerawork – auch Fragen des Feminismus, des Rassismus, des Kolonialismus.
Es liegt auf der Hand, dass eine alternative Geschichte der Fotografie, wie sie Ribalta in seinem Buch erzählt, nicht mit einer glorreichen Revue von Vintage Prints und einem Panorama großer Fotografennamen kompatibel ist. Viele Dokumente und Unterlagen dieser Bewegungen haben nur als ephemere Publikationen überlebt, u.a. in Form von Flugzetteln, Broschüren, Katalogen (meist in geringer Auflage), Ausstellungsfotos und Plakaten. Daher ist es ein wichtiges Anliegen Ribaltas, diese verstreuten Dokumente zu sammeln und zusammenzuführen und (auf englisch) eine Auswahl daraus einem internationalen Publikum für weitere Recherchen zugänglich zu machen. Dies erklärt auch den Aufbau des Bandes. Auf eine lange, sehr gute Einführung Ribaltas folgen Interviews mit Experten (u.a. Duncan Forbes, Patricia Hayes, Sarah James, Martha Rosler, Rolf Sachsse und Siona Wilson). Da diese per email geführt wurden, bleibt vom dialogischen Anspruch leider wenig übrig, statt dessen arten die Beiträge teilweise in Monologe aus. Abschließend versammelt Ribalta, so wie bereits bei seinem letzten Buchprojekt, in einem umfangreichen Kapitel historische Dokumente und Bilder sowie wichtige zeitgenössische Aufsätze und Essays. In Summe bieten diese Dokumente, die teilweise im Original schwer zugänglich sind, ein vielstimmiges Panorama einer Aufbruchsbewegung, die zwar in der 86er-Bewegung einen halbwegs klar definierbaren Ausgangspunt hatte, deren Endpunkte in den 1980er Jahren aber weit schwerer zu benennen sind. Teilweise verliefen sich die alternativen Foto-Bewegungen in sektiererischen und/oder persönlichen Querelen, teilweise in politischer Resignation oder Erschöpfung, teilweise aber wohl auch in Karrieresprüngen oder im Rückzug ins Private.
Wird dieser anregende Band die Fotogeschichtsschreibung in neue, (selbst-)kritischere Bahnen lenken können? Wohl kaum. Eines aber leistet die Publikation, zusammen mit der Vorgängeredition Worker Photography Movement 1926–1939 zweifellos: Sie verdeutlicht, dass eine andere Geschichte der Fotografie nur um den Preis zu schreiben ist, herkömmliche Thesen zur Fotoentwicklung sowohl theoretisch wie auch thematisch radikal in Frage zu stellen. Zudem sind beide Bände wichtige Studien- und Arbeitsbücher für jene Fotohistoriker, die sich mit der Mainstream-Fotogeschichte nicht zufrieden geben. Es ist zu hoffen, dass sie weitere Recherchen anregen. Und es ist zu wünschen, dass Jorge Ribalta weiterhin unermüdlich an einer Gegengeschichte der Fotografie arbeitet und in den nächsten Jahren neue Aspekte vorstellt.
[1] Museu d’Art Contemporani de Barcelona (MACBA), Jorge Ribalta (Hg.): Public Photographic Spaces. Exhibitions of Propaganda, from Pressa to The Family of Man 1928–1955, Barcelona: Museu d’Art Contemporani de Barcelona (MACBA), 2009, 497 S., 17 x 26 cm, zahlreiche Abb. In S/W, 59 Euro – Englischsprachige Ausgabe: 978-84-92505-06-7, Bestellung: www.macba.cat Vgl. die Rezension in Fotogeschichte, Heft 113, 2009.
[2] Jorge Ribalta (Hg.): The Worker Photography Movement 1926–1939. Essays and Documents. Englischsprachiger Begleitband zur Ausstellung „Una luz dura, sin compasión. El movimiento de la fotografia obrera 1926-1939/A Hard, Merciless Light. The Worker Photography Movement 1926-1939“ im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia (http://www.museoreinasofia.es), Madrid, 6. April bis 22. August 2011, Madrid: TF.Editores, 2011, 23 x 17 cm, 477 S., kartoniert, 35 Euro. Vgl. die Rezension in Fotogeschichte, Heft 127, 2013.
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