Katharina Steidl
Jenseits der Fotografie
Neue Aspekte der Talbot-Forschung
Mirjam Brusius, Katrina Dean, Chitra Ramalingam (Hg.): William Henry Fox Talbot. Beyond Photography, New Haven, Connecticut: Yale University Press, 2013, 308 S., 25,7 x 28,5 cm, zahlreiche farbige Abb., gebunden mit Schutzumschlag, 57,60 Euro.
Erschienen in: Fotogeschichte 135, 2015
Einen neuen, multidisziplinären Blick auf Talbots zahlreiche Forschungsfelder – abseits der Fotografie – zu werfen, ist das erklärte Ziel vorliegenden Sammelbandes. Darin werden die Ergebnisse einer im Jahre 2010 von Mirjam Brusius, Katrina Dean und Chitra Ramalingam organisierten Konferenz versammelt, die am Centre for Research in the Arts, Social Sciences, and Humanities der University of Cambridge (CRASSH) abgehalten wurde.
Nicht nur seit der online zugänglich gemachten Briefedition Talbots[1], sondern auch seit dem Ankauf archivalischer Materialien aus dem ehemaligen Familienbesitz Talbots durch die British Library im Jahr 2006 – darunter 360 Notizbücher, Fotografien, Herbarien und Schriftverkehr – sah sich die Talbot-Forschung bis dato schwer zugänglichen Materialien und damit gleichzeitig neuen Fragestellungen gegenübergestellt.[2] Eine Zielsetzung vorliegender Publikation ist somit Talbot (abgesehen von seiner prominenten Stellung als Erfinder früher fotografischer Verfahren) auch hinsichtlich seiner zahlreichen wissenschaftshistorisch relevanten Interessens- und Forschungsgebiete zu beleuchten. Damit wird ein Feld eröffnet, das abseits der üblichen kunsthistorischen Vereinnahmung von Talbots fotografischem Œuvre für eine erweiterte Betrachtungsweise seiner über Mathematik, Chemie, Philologie, Etymologie, Assyriologie und zahlreichen anderen Wissensgebieten reichenden Interessen plädiert. Durch diese Fokussierung sollen nicht zuletzt mögliche osmotische Wechselwirkungen zwischen genannten Wissensgebieten und der Fotografie sichtbar gemacht sowie Talbots Stellung innerhalb des weit verzweigtes Netzwerks der viktorianischen Wissensgemeinschaft analysiert werden. Dies jedoch unter der Prämisse vorerst nur „grundsätzliche Fragen“ aufwerfen sowie den Weg für „zukünftige Forschungsfelder“ aufbereiten zu wollen (S. 4). Auch im einleitenden Beitrag Deans wird klar, dass Talbot durch diese Herangehensweise keine Stellung als herausragende wissenschaftliche Größe in jenen Gebieten zugesprochen werden soll, sondern dass die Analyse jener Materialien – und dies ist sehr vage formuliert – einen „aufstrebenden Umgang mit Wissen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ erhellen möchte (S. 34).
Aufgrund der Fokussierung auf die neue Quellenlage wird von den Herausgeberinnen ein materialitätsorientierter Zugang präjudiziert, der in den Beiträgen größtenteils eingelöst wird. Dieser in der Wissenschaftsgeschichte seit geraumer Zeit populäre Aspekt des „science in the making“ verschreibt sich der Untersuchung von Instrumenten, Aufzeichnungsverfahren, Räumen, Netzwerken, Assistenten und anderen am Wissensprozess beteiligten materiellen und immateriellen Dingen. So weisen Brusius und Ramalingam nicht nur auf die Notwendigkeit einer eingehenderen Untersuchung von Talbots Notizbüchern hin, die szientifische Praktiken des Notierens, Skizzierens, Sammelns, Memorierens und Entzifferns auch in Bezug auf die Fotografie fruchtbar machen kann, sondern ebenso auf die bis dato zu wenig beachteten wissenschaftlichen Netzwerke und Orte - unter anderem Royal Institution und British Museum - in die Talbot auf unterschiedliche Weise integriert war.
Diesen zentralen Fragestellungen versuchen die Textbeiträge des Bandes in drei Abschnitten näher zu kommen: „Models for Investigation“ versammelt Aufsätze von Anne Secord, June Barrow-Green und Graham Smith, die der Frage der Vorbild- und Modellwirkung der Studien Talbots zu Mathematik, Botanik und Literatur in Bezug auf die Fotografie nachgehen. Texte von Herta Wolf, Vered Maimon und Larry J. Schaaf umkreisen unter dem Abschnitt „Invention and Discovery“ die diskursiven Zuschreibungen der Erfindung und/oder Entdeckung von Fotografie beziehungsweise ihre Fortführung als reproduktionstechnisches Verfahren im Buchdruck. Unter der Rubrik „Institutions and Networks“ wiederum setzen sich Eleanor Robson, Mirjam Brusius und Chitra Ramalingam mit Talbots Stellung innerhalb der viktorianischen Wissenslandschaft auseinander.
In ihrem Artikel „Talbot’s First Lens: Botanical Vision as an Exact Science“ geht Secord der Bedeutung von Talbots Studium der Botanik in Bezug auf die Fotografie nach. Darin erkennt sie das Sammeln, Trocknen, Klassifizieren und Ordnen von Moospflanzen in Alben als grundlegende Qualifikationen an, die nicht nur Talbots Beobachtungsgabe schärften, sondern auch sein Engagement kameralose Fotografien als botanisches Aufzeichnungsmedium zu etablieren erklären dürften. Die vergleichbare Technik des Naturselbstdrucks erfährt in Secords Besprechung nur eine marginale Erwähnung, wobei sich hier grundlegende botanische Bildpraktiken und insbesondere Terminologien aufzeigen ließen, die für die nachfolgende Fotografierezeption von entscheidender Bedeutung sind. June Barrow-Green wiederum geht in hauptsächlich deskriptiver Weise Talbots „leisure activity“ Mathematik nach (S. 87). Als ein Erfolg kann dabei die nach ihm benannte „Talbot-Kurve“ angeführt werden, womit die negative Fußpunktkurve einer Ellipse bezeichnet wird. Abbildungen aus Talbots Notizbüchern der British Library weisen in diesem Beitrag rein illustrativen Charakter auf, wodurch dem daraus ableitbaren Prozess der Wissensgenerierung keine Beachtung geschenkt wird. Querverbindungen von Talbots Walter Scott - und Shakespearelektüren, seinen eigenen Schriften sowie seiner Fotoserie „Sun Pictures of Scotland“ versucht Graham Smith aufzuspüren. Die während der ersten Fotografieausstellung Talbots proklamierte Metapher „Nature as Drawing Mistress“, mit der Natur als Agens von Fotografie belegt wurde, untersucht Herta Wolf hinsichtlich ihrer medialen und wissenschaftshistorischen Bedeutung um davon ausgehend einzelne Episoden fotografischer Diskurse zu skizzieren. Nach einer geschlechtsspezifischen Erörterung dieser in mehrfacher Hinsicht aufschlussreichen Beschreibungsformel sucht man jedoch vergeblich. In „Talbot’s Art of Discovery“ geht Vered Maimon am Beispiel zweier Publikationen den changierenden Erfindungskonzepten Talbots, von rational ableitbarer Erkenntnis zu induktivem Geniestreich, nach. In einem zweiten, etwas losgelösten Teil, verdeutlicht sie am Beispiel botanischer Fotogramme Talbots die Konzeptualisierung von Fotografie, die abseits von „Naturwahrheit“ und „Authentizität“ ein weit verzweigtes Bezugsgeflecht eröffnet. Talbots langjährige Bestrebungen Fotografie als drucktechnisches Medium für den Buchmarkt umzusetzen beziehungsweise zu perfektionieren, beschreibt Schaaf in einem weiteren Essay. Robson und Brusius untersuchen in ihren Beiträgen wiederum die Rolle Talbots im Bereich der Assyriologie. Der Plan Fotografie als Reproduktionsmedium von Originalen der Antike zur Entzifferung von Inschriften und damit als „scientific tool“ einzusetzen, erwies sich als ungeeignet (S. 222). Dennoch versuchte Talbot jenes Medium unter anderem am British Museum für Forschungszwecke zu etablieren, wie Brusius in ihrem Beitrag aufschlussreich darlegt. Ramalingam erörtert Talbots Beschäftigung mit Moment- und Blitzlichtfotografie sowie den dabei verwendenden Apparaturen, die zudem in Londons Experimentier- und Schaukultur zu verorten sind. Ein abschließender Beitrag Simon Schaffers fasst die Ergebnisse des Bandes auf anschauliche Weise zusammen und betont die durchgängige Analyse des behandelten Materials in seiner Eigenständigkeit, wodurch die gängige historiografische Praxis einer teleologischen Lesart durchkreuzt wird.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Ansatz, Talbots Notizbücher als Praxis der Wissensgenerierung zu untersuchen, etwas zu kurz kommt. Auch der Großteil der Abbildungen stammt nicht aus dem neu gewonnenen Archivmaterial der British Library. Dennoch vereint vorliegende Publikation konzis erarbeitete Beiträge, die bisher weniger beleuchtete Arbeitsgebiete Talbots, auch in Zusammenhang zu seinen fotografischen Arbeiten, aufzeigen, wodurch die Lektüre mehr als lohnenswert erscheint.
[1] Online unter: foxtalbot.dmu.ac.uk.
[2] Erst kürzlich (Oktober 2014) konnte auch die Sammlung der Bodleian Libraries der Universität Oxford um den Ankauf wertvoller Talbotarchivalien bereichert werden.
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