Steffen Siegel
Das alte Licht strahlt hell
Ulrich Pohlmann, Dietmar Siegert (Hg.): Zwischen Biedermeier und Gründerzeit. Deutschland in frühen Photographien 1840–1890 aus der Sammlung Siegert, München: Schirmer/Mosel, 2012. 366 S., 28 x 24 cm, 291 Farbtafeln, 31 Abbildungen, 49,80 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 129, 2013
Von „altem Licht“ schrieb Kurt Tucholsky, als er im Jahr 1927 in einem kleinen Essay seine persönlichen Erfahrungen bei der Betrachtung früher Fotografien kennzeichnete.[1] Zu dieser Zeit waren die ältesten der fotografischen Verfahren beinahe ein ganzes Jahrhundert in der Welt. Und wie Tucholskys Text oder auch die nur wenig später erschienene „Kleine Geschichte der Photographie“ Walter Benjamins anzeigen – dieses Medium war längst dabei, eine Sache retrospektiver Untersuchung und historiografischer Aufarbeitung zu werden.[2] Unsere eigene, das heißt heutige fotohistorische Arbeit mag von solchen frühen Versuchen der Fotografie-Geschichtsschreibung zwar immer noch ihren Ausgang nehmen, zugleich haben sich die Voraussetzungen und Umstände gegenwärtiger Forschung jedoch entscheidend verändert.
Die vielleicht folgenreichste Verschiebung betrifft hierbei die Frage nach jenem Bezugsrahmen, in den sich große wie kleine Fotogeschichten einstellen und den sie ihrerseits neu konturieren. Das nationale Paradigma, das sich bis in das Konkurrenzverhältnis zwischen Großbritannien und Frankreich aus den Anfangstagen des Fotografischen zurückverfolgen lässt, sieht sich mit guten Gründen als überholt kritisiert und durch Versuche abgelöst, die wenigstens eine kontinentale, wenn nicht sogar eine globale Perspektive vertreten. Das im Entstehen befindliche Projekt einer History of European Photography[3] gehört hierher ebenso wie die lange schon erschienene und in mehreren Auflagen nachgedruckte World History of Photography.[4]
Wenn nun also in aufwändiger Ausstattung ein Kompendium zu den ersten fünf Jahrzehnten der Fotografie in Deutschland erscheint, ist dies dann mehr als die überaus opulente und in diesem Sinn ausgesprochen gelungene Präsentation einer wichtigen Privatsammlung? Nicht ganz von der Hand weisen jedenfalls lässt sich ein erster Verdacht, hier könne eine Rückkehr unternommen werden in jene Zeit der Fotogeschichten aus dem Geist der Privatsammlung, die sich etwa mit Helmut und Alison Gernsheim verbindet und die unterdessen ein gutes halbes Jahrhundert zurückliegt. Gerade jetzt aber ein Buch mit dem Untertitel Deutschland in frühen Photographien 1840–1890 zu drucken und dieses bereits auf dem Vorsatzblatt mit einer farbigen Karte des Deutschen Reichs auf dem Stand des Jahres 1871 auszustatten, provoziert methodenkritische Fragen, die insbesondere den oben benannten Bezugsrahmen des fotohistorischen Interesses betreffen.
Um es vorweg zu nehmen: Dieser Katalog zur Foto-Sammlung Dietmar Siegerts verhält sich solchen Fragen gegenüber auf merkwürdige Weise indifferent. Er repräsentiert vor allem den Darstellungsanspruch der Sammlung, ohne jedoch einer Geschichtsschreibung speziell zur frühen deutschen Fotografie all zu weit reichende neue Aspekte hinzufügen zu wollen. Hier wird eine Chance leider all zu leichthändig vergeben, denn das von Siegert Zusammengetragene ist vieles zu gleicher Zeit: ästhetisch hochrangig, historiografisch vielsagend, motivisch vielschichtig und zuweilen auch ganz einfach kurios. Will man demgegenüber den Anspruch des Sammlers als Ausgangspunkt akzeptieren, so lädt der Band zu einer überaus reichen fotografischen Exkursion durch das Deutsche Reich des mittleren und späten 19. Jahrhunderts ein.
Der Vorzug der hierbei getroffenen Auswahl betrifft zum Einen die Vielfalt verschiedener Städte und Regionen. Geografische Schwerpunkte wie Hamburg, Berlin oder München fallen bestenfalls quantitativ ins Gewicht; Veduten aus Lübeck, Bad Schandau oder Speyer stehen hinsichtlich ihres ästhetischen Rangs gleichberechtigt daneben. Zum Anderen aber lassen sich anhand des hier entfalteten Panoramas jene Darstellungsansprüche, die im ersten Halbjahrhundert dieses Bildmediums an das Fotografische gerichtet wurden, in hervorragender, wenn auch nicht vollständiger Weise ablesen. Den Vorzug gibt diese Sammlung vor allem dem repräsentativen und bereits seinerzeit hochpreisigen Einzelbild. Kaum oder gar nicht erfasst werden jedoch fotografische Gattungen wie die Stereofotografie, die Carte-de-visite-Bilder oder auch das weite Feld wissenschaftlicher Fotografien.
Hält man sich jedoch an das, was hier in überreichem Maß geboten wird, dann rücken erstaunliche Bildwelten vor Augen. Hierzu zählen nicht allein die von Ulrich Pohlmann in einem eigenen Artikel besprochenen Front-Fotografien aus dem Dänisch-Preußischen Krieg von 1866 sowie dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871. Ein besonderes Kuriosum sind gewiss jene ins Bild gesetzten Maskenbälle der Münchner Gesellschaft aus den späten 1850er und frühen 1860er Jahre, die in einer ebenso merkwürdigen wie reizvollen Form gemeinschaftlicher Scharade Joseph Alberts Fotoatelier in einen Raum purer Fantasie-Entfaltung verwandeln. Und gerade anhand solcher Sammlungskomplexe wird deutlich, wie hell das von Tucholsky beschworene alte Licht tatsächlich noch immer zu strahlen im Stande ist.
Die insgesamt dreizehn Essays sind nach systematischen Gesichtspunkten geordnet – historische und geografische Aspekte gehören hierzu ebenso wie Fragen nach einzelnen fotografischen Genres. Der Raum jedoch, der den einzelnen Texten zugestanden wurde, ist stets zu eng bemessen, um mehr als einige wenige einführende Bemerkungen zum jeweiligen Gegenstand zu versammeln. Nicht selten formulieren dies die Autorinnen und Autoren zu Beginn ihrer Beiträge selbst und zeigen hierbei ein gewisses Unwohlsein an. Gewiss besser wäre es gewesen, auf solche beiläufig ausgesprochenen Signale zu hören und ausführlichere Analysen zur Einführung in den jeweiligen Problemkreis aufzunehmen. Ein epochemachender Katalog wie Silber und Salz[5] jedenfalls wird von diesem neueren Band nicht eingeholt werden können.
[1] Kurt Tucholsky: Altes Licht [1927], in: Ders.: Gesammelte Werke, 10 Bde., Bd. 5, hg. von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 344-346.
[2] Siehe hierzu ausführlich in diesem Heft die Besprechung der Dissertation von Miriam Halwani.
[3] Václav Macek (Hg.): The History of European Photography, bislang 3 Bde., Bratislava 2010 ff.
[4] Naomi Rosenblum: A World History of Photography, New York, London, Paris 1984; zuletzt 42008.
[5] Bodo von Dewitz (Hg.): Silber und Salz. Zur Frühzeit der Photographie im deutschsprachigen Raum 1839–1860, Köln, Heidelberg 1989.
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