Lars Nowak
Eadweard Muybridges Flying Studio
Philip Brookman (Hg.): HELIOS. Eadweard Muybridge in a Time of Change, Göttingen/Washington D.C.: Steidl/Corcoran Gallery of Art, 2010, 28 x 22 cm, 360 S., 315 Abbildungen, Hardcover, 65 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 118, 2010
Bei dem Bildband HELIOS. Eadweard Muybridge in a Time of Change handelt es sich um den Katalog einer gleichnamigen Ausstellung, die von der Corcoran Gallery of Art, Washington, erarbeitet wurde. Die Schau ist im Herbst/Winter 2010/11 in der Tate Britain, London, zu sehen, und wird im Februar 2011 wieder in die USA, nämlich in das Museum of Modern Art, San Francisco, zurückkehren. Alle drei Orte sind unmittelbar mit der Biografie dieses bedeutenden britisch-amerikanischen Fotografen verbunden. Denn nicht nur verbrachte Muybridge seine Kindheit und seinen Lebensabend in dem damals unweit von London gelegenen und mittlerweile eingemeindeten Kingston upon Thames und wirkte dazwischen lange Jahre in der Pazifikstadt San Francisco, die er auch fotografiert hat; ebenso gelang es ihm im dritten Anlauf, die Corcoran Gallery dazu zu bewegen, ein Exemplar seines chronofotografischen Mammutwerkes Animal Locomotion (1887) zu erwerben, das nun in Teilen Eingang in die genannte Ausstellung gefunden hat.
Obwohl das Buch in seinem Titel den Künstlernamen zitiert, den Muybridge am Anfang seiner fotografischen Karriere benutzte, und damit zunächst den Eindruck erweckt, es konzentriere sich auf das Frühwerk dieses Fotografen, versucht sich das voluminöse Werk tatsächlich an einer Gesamtschau, die allen Teilen von Muybridges umfangreichem und vielfältigem Schaffen gleichermaßen gerecht zu werden versucht. So finden hier neben den bereits erwähnten Chronofotografien auch Muybridges zahlreiche Natur- und Stadtlandschaften, architektonischen Außen- und Innenansichten, Kriegsreportagen und Porträts Berücksichtigung. Dieses Bemühen um Inklusivität betrifft neben der Bildauswahl auch die – allesamt englischsprachigen – Begleittexte, die sich im Übrigen nicht nur auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes bewegen, sondern zum Teil auch von wichtigen Vertretern der Muybridge-Forschung selbst stammen.
Dabei bemüht sich Andy Grundbergs Einleitung, anhand der bis in die Gegenwart reichenden Wirkungsgeschichte von Muybridges Werk dessen anhaltende Aktualität deutlich zu machen. Dagegen kommt es dem biografischen Hauptartikel des Herausgebers und Chefkurators Philip Brookman auf eine Verortung Muybridges in dessen zeitgenössischen Kontexten an, die vom künstlerisch-ästhetischen über das ideologisch-kulturelle bis zum sozialen, ökonomischen und technischen Umfeld reichen und zu denen auch die damalige amerikanische Landschaftsmalerei gehört, bei der die Corcoran Gallery ihren eigentlichen Sammelschwerpunkt besitzt. Rebecca Solnit bietet in ihrem Beitrag ähnlich wie Brookman einen Gesamtüberblick, fokussiert dabei aber stärker auf das Werk und versucht explizit, dessen formalen und inhaltlichen Zusammenhalt herauszuarbeiten, der sich etwa an Muybridges durchgängigem Interesse an den komplexen Bewegungen des Wassers zeige. Und während Corey Keller Muybridges Qualitäten als showman nachgeht, beschäftigt sich Marta Braun erneut mit seinen Chronofotografien, deren unwissenschaftliche Seiten sie bereits in ihrem 1992 erschienenen Buch Picturing Time. The Work of Etienne-Jules Marey (1830-1904)dekuvriert hatte, wobei sie nun als weitere Belege für ihre dort formulierten Thesen Zyanotypien zu Animal Locomotion anführen kann, die erst 1999 entdeckt wurden.
Leider hat die von Braun betonte Pseudowissenschaftlichkeit von Muybridges Chronofotografien die Beiträger des Buches davon abgehalten, diese Aufnahmen in ein Verhältnis zu anderen fotografischen Bewegungsstudien zu setzen. Dabei hätte ein Vergleich mit Frank und Lillian Gilbreths tayloristischen Fotografien von Arbeitsvorgängen oder mit den Wasseraufnahmen von Étienne-Jules Marey, Charles Vernon Boys und Arthur Worthington sicherlich einige interessante Berührungspunkte zu Tage gefördert. Die Bezugnahmen auf andere bildende Künstler wiederum konzentrieren sich entweder auf Muybridges eigene Zeit oder auf die Gegenwart, überspringen aber weitgehend die vielen dazwischen liegenden Dekaden. Kritisch anzumerken ist ferner, dass zwischen den Texten diverse Überschneidungen bestehen, die sich vielleicht durch eine genauere Absprache unter den Autoren hätten vermeiden lassen. Auch sind die Bezugnahmen der Texte auf die Abbildungen manchmal nur schwer nachzuvollziehen und die Bilder mitunter in so großer Entfernung von der entsprechenden Textstelle platziert, dass ihre Auffindung einige Mühe bereitet – zumal ihre Anordnung nach den Werkgruppen nicht konsequent durchgehalten wird.
Grundsätzlich jedoch weist HELIOS jene hohe gestalterische Qualität auf, für die der Steidl-Verlag im Allgemeinen bekannt ist. Dabei gelingt es auch dem layout der Bilder bisweilen, frappante Sinnbezüge herzustellen, etwa wenn die Platzierung der Bildtafeln 42 und 43 auf derselben Doppelseite die eigentümlich dezentrierten Kompositionen von Muybridges Leuchtturm-Aufnahmen vor Augen führt und damit Solnits These von Muybridges innovativer Ästhetik belegt, ohne dass diese Autorin hierauf eigens eingehen müsste.
Ebenso geht die innere Einheit von Muybridges Schaffen nicht nur aus Solnits Aufsatz, sondern auch aus den anderen Beiträgen des Bandes hervor. Als besonders wichtig erscheint hier, dass sich Muybridges Thematisierung von Zeit und Bewegung keineswegs auf die Chronofotografien und deren protokinematografische Mobilisierung im Zoopraxograph beschränkte, sondern auch seine anderen Projekte durchdrang: Wenn Brookman Muybridges Landschaftsfotografien denjenigen von Carleton Watkins mit der Begründung gegenüberstellt, dass es ihnen im Unterschied zu diesen nicht um den Raum, sondern um die Zeit gehe, so benennt er im Folgenden mit den verfallenen und überwucherten Resten spanischer Kolonialarchitektur in den Mittelamerika-Fotografien, dem zyklischen Wechsel von Ebbe und Flut in den Leuchtturm-Bildern und den Wasserfällen in den Yosemite-Aufnahmen tatsächlich konkrete Beispiele für diese temporalisierte Landschaftsauffassung. Dabei werden die Bewegungen der Wasserfälle zwar nicht durch ihre einzelnen Phasen, sondern durch die Wassersäulen dargestellt, die sie im Verlauf einer Langzeitbelichtung geformt haben. Doch abgesehen davon, dass es hier dennoch um ähnliche zeitliche Größenordnungen wie in den Chronofotografien geht, hat Muybridge neben diesen noch weitere Fotoserien produziert. Dazu gehören zunächst zahlreiche Stereofotografien, die aufgrund ihrer Zweiteiligkeit bereits minimale Syntagmen bilden, diverse mehrteilige Panoramen, unter denen diejenigen von San Francisco nur die bekanntesten sind, und auch einige Stereopanoramen, die beide Techniken kombinieren. Nun stehen die Teile dieser Serien gewiss primär in räumlichen Beziehungen, präsentieren doch die Stereoaufnahmen zwei räumlich benachbarte Perspektiven auf denselben Gegenstand und die Panoramen eine Reihe benachbarter Raumausschnitte. Doch hebt Brookman hervor, dass auch hier zeitliche Relationen ins Spiel kommen, wobei nur die Teile der Stereofotografien gleichzeitig, diejenigen der Panoramen dagegen nacheinander entstanden, wie sich den wandernden Schatten in den San Francisco-Panoramen entnehmen lässt. Und obwohl Solnit einräumt, dass es sich in diesem Fall um viel längere Zeitspannen als bei den Chronofotografien handelt, weist sie zugleich darauf hin, dass die Teile der Stereopanoramen auch nacheinander betrachtet werden müssen. Wie dann wieder insbesondere Brookman klarstellt, produzierte Muybridge schließlich mehrere Fotoserien von Arbeitsabläufen wie der Errichtung von Gebäuden, dem Backen von Brot oder dem Wein- und Kaffeeanbau, die zwar ebenfalls größere Zeitabschnitte umfassen, zugleich aber die Sukzession mehrerer Zeitpunkte ausdrücklich zu ihrem Gegenstand haben.
Wenngleich sich Brookmans und Solnits Ausführungen partiell auf frühere Publikationen, etwa von Hollis Frampton oder Jonathan Crary, stützen, stellt die erneute Verdeutlichung von Muybridges genereller Ausrichtung auf Zeit und Bewegung eines der größten Verdienste dieser weiteren Veröffentlichung zu einem Fotografen dar, der bereits als gut erforscht gelten darf. Das gilt umso mehr, als Brookmans historische Kontextualisierung diese Ausrichtung auf überzeugende Weise auf die damalige technische Mobilisierung und Beschleunigung bezieht, gehörten Muybridges Körper und Landschaften doch nur scheinbar unberührter Natur an und waren tatsächlich längst kulturell überformt. Ähnlich plausibel ist der besondere Akzent, den Brookman hierbei auf das Transportmittel der Eisenbahn legt, das in der Tat nicht nur zur gleichen Zeit wie das Medium der Fotografie entstand, sondern auch eine besondere Rolle in Muybridges Umfeld spielte. Denn Muybridge nahm nicht nur seine ersten Chronofotografien vom Ende der 1870er Jahre im Auftrag des Eisenbahn-Magnaten Leland Stanford auf, sondern hatte schon 1869 die Bauarbeiten zur Schließung der Eisenbahnverbindung zwischen der amerikanischen Ost- und Westküste fotografiert. Und obwohl Brookman die These, die Vollendung der transkontinentalen Bahnverbindung habe die Raum- und Zeitwahrnehmung revolutioniert, zunächst mit allzu großer, da globaler Allgemeinheit vorträgt, schränkt er sie später sinnvollerweise auf den amerikanischen Kontext ein.
Vor dem Hintergrund dieser Argumentation gewinnt Muybridges Firmensignet, das nicht nur in den Texten des Buches angesprochen, sondern auch auf der Vorderseite des Einbandes und dem Vorsatzblatt wiedergegeben wird, einen besonderen Sinn. Bemerkenswert ist hieran nicht das durch eine Sonne bebilderte Pseudonym „HELIOS“, das dem Band seinen Titel gegeben hat; solche Bezugnahmen auf das Sonnenlicht stellten nämlich auch viele andere Fotografen des 19. Jahrhunderts in ihren Emblemen her. Besondere Beachtung verdienen vielmehr der Namenszusatz „Flying Studio“ und der geflügelte Fotoapparat, die sich darunter befinden. Denn mit diesen Elementen machte der Fotograf Muybridge nicht nur auf seine eigene Beweglichkeit und Schnelligkeit aufmerksam. Sie verweisen zugleich auf die Mobilität von Muybridges Sujets, zu denen in Animal Locomotion auch im Flug befindliche Vögel gehörten, deren ausgebreitete Flügel denen der Kamera exakt entsprechen. Insofern stellt es eine schöne Abrundung dar, wenn Brookmans Band ganz so mit der Fotoserie eines fliegenden Kakadus endet, wie er mit der geflügelten Kamera des Firmensignets eröffnet wurde.
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