Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Matthias Christen

Weiße Flächen: Fotobücher seit 1960 im Überblick

Hans Dickel: Künstlerbücher mit Photographie seit 1960, Stuttgart: Maximilian-Gesellschaft e.V., 2008, 20 cm x 29 cm, 258 Seiten, 257 Abb. in Farbe und sw, Leinen (ohne Umschlag), 79 Euro. (Das Buch kann bei der Buchhandlung Walther König, Ehrenstraße 4 in 50672 Köln bestellt werden: order@buchhandlung-walther-koenig.de.)

Erschienen in: Fotogeschichte 118, 2010

Zu wenigen Themen ist in den vergangenen Jahren so ausgiebig geforscht und publiziert worden wie zum Fotobuch und seiner Geschichte. Andrew Roth’s The Book of 101 Books (New York: PPP, 2001) und die zwei Bände von Martin Parr und Gerry Badgers The Photobook (London: Phaidon, 2004/2006) haben einen ersten Überblick verschafft, den Veröffentlichungen wie Ryuchi Kaneko und Ivan Vartanians Japanese Photobooks of the 1960s and ’70s (New York: Aperture, 2009) regional und thematisch vertiefen. Und Neueditionen wie die in Jeffrey Ladds Books-on-Books-Serie (New York: errata 2009f.), die jüngst um vier Klassiker, darunter William Kleins Life is Good erweitert wurde, sorgen dafür, dass zumindest ein paar der neu und wieder entdeckten Schätze nicht halbwegs mythische Sammlerstücke bleiben, sondern trotz explodierender Antiquariatspreise für ein breites Publikum zugänglich bleiben.

Dennoch gibt es in der Geschichte des Fotobuchs weiter weiße Flächen, wie nun ein von der Maximilian-Gesellschaft für alte und neue Buchkunst herausgegebener Band von Hans Dickel zeigt. Der Erlanger Kunstwissenschaftler lenkt den Blick auf ein Genre, das bislang wenig beachtet wurde, weil es zwischen Foto- und Kunstgeschichte in einer Art disziplinärem Niemandsland zu Hause ist. Gemeint sind die Buchpublikationen jener Künstlerinnen und Künstler, die, ohne von Haus aus Fotografen zu sein, und häufig ohne eine entsprechende handwerkliche Ausbildung die Fotografie von den frühen 1960er Jahren an als (bevorzugtes) Arbeitsinstrument nutzen. Dickel spricht angesichts der unsicheren Zuordnung von „Künstlerbüchern mit Photographie“ und sieht darin eine „eigenständige Kunstgattung“ (IX). Denn anders als herkömmliche Katalogpublikationen, für die Fotos im Bereich der Kunst seit je her eine tragende Rolle spielen, dienen die illustrierten „artist’s books“ „nicht der Reproduktion und Verbreitung anderer künstlerischer Inhalte [...], sondern [bringen] diese erst hervor“ (X). Zudem sind sie – für Dickel ein weiterer Ausweis ästhetischer Legitimität und Eigenständigkeit – in der Regel von den jeweiligen Künstlerinnen und Künstlern selbst gestaltet.

Nach der kurzen Begriffsbestimmung skizziert Dickel in einem Vorwort, das für ein mit den einschlägigen Diskursen nicht vertrautes Publikum sehr knapp ausfällt, die historischen Entstehungsbedingungen des neuen Genres. Demnach sind die fotografischen „artist’s books“ aus der Auseinandersitzung mit einem als krisenhaft erfahrenen Avantgardismus hervorgegangen. Im Rückgriff auf die Fotografie als „kulturell verankerter Bildtechnik“ versuchen sie, so Bickel, dessen „abbildungsfeindliche, modernistische Abstraktion“ (XIV) zu überwinden und an den etablierten Kunstinstitutionen Galerie und Museum vorbei neue Vertriebswege und Publika zu erschließen. Die produktionstechnischen Voraussetzungen für die Neubestimmung und Weiterung des Kunstbegriffs, die die „artist’s books“ in den 60er Jahren vornehmen, bilden Dickel zufolge kostengünstige Offsetverfahren. Denn im Gegensatz zu den älteren „livres d’artiste“, die sich als aufwändige Edeldrucke in Kleinstauflagen an ein bibliophiles Publikum wenden, sind die meisten „Künstlerbücher mit Photographie“ drucktechnisch anspruchslos für eine möglichst breite Abnehmerschaft produziert.

Der Einleitung folgen kurze Kapitel, in denen von Ed Ruschas Twentysix Gasoline Stations (1963) bis Candida Höfers Bibliotheken (2005) einunddreißig Beispiele aus rund vierzig Jahren einzeln vorgestellt werden. Nach dem von Roth und Parr/Badger gesetzten Muster ist zu jeder Analyse eine Auswahl von Seiten aus dem besprochenen Band hochwertig reproduziert. Anhand von Klassikern und weniger bekannten Werken führt Dickel anschaulich ein breites Spektrum fotografischer Positionen auf, das von der konzeptuellen Serienbildung (Ruscha) und der Auseinandersetzung mit „found footage“ (Boltanski, Baldessari, Roth, Darboven, Kippenberger) über die Dokumentation von Installationen und Performances (Penone) bis hin zur Reflexion auf den künstlerischen Schaffensprozess reicht (Roth).

Ungeachtet exzellenter Beispielanalysen – s. v.a. Dieter Roth, Ein Tagebuch (aus d. Jahre 1982) und Christian Boltanski Sans-Souci – bleibt jedoch die grundlegende Aufgabenverteilung problematisch, die Dickel bei der Einschätzung der „artist’s books“ im Verhältnis von Kunst und Fotografie vornimmt: „In der Spannung zwischen Intellektualismus und Realismus liegt der besondere Reiz dieser Kunstgattung. Das Buch als Reflexion stiftendes Medium (der Kunst) und die Abbildungsqualität der Photographie als Medium der Wirklichkeit zu komplementären Größen gemacht zu haben, ist ein für die Entwicklung der modernen und gegenwärtigen Kunst generell wichtiger Beitrag der Künstlerbücher mit Photographie seit 1960“ (XIV). Mitunter entgegen den eigenen Befunden wird hier die Fotografie – einmal mehr – auf Realismus und Wirklichkeitsnähe verpflichtet, während die reflexive Durchdringung des Materials als Leistung der vermeintlich stärker buchaffinen Kunst vorbehalten bleibt. Dabei haben gerade die eingangs erwähnten Publikationen den Nachweis erbracht, dass die Fotografie lange vor dem Aufkommen der „artist’s books“ eine eigene Buchtradition kennt, die Dickel weitgehend außer Acht lässt.

Dass diese im engeren Sinn fotohistorischen und -ästhetischen Zusammenhänge außen vor bleiben, macht sich verstärkt dort nachteilig bemerkbar, wo es im zweiten Teil von Dickels Band um Bücher von Künstlerinnen und Künstler geht, die ausschließlich fotografisch arbeiten, mithin kein anderweitiges Werk haben, und wo sich daher fragt, wie weit der Begriff des „Künstlerbuchs mit Photographie“ trägt. Der Abschnitt zu Nan Goldins I’ll Be Your Mirror fällt jedenfalls gegenüber der Analyse zu Werken aus den 60er Jahren deutlich ab. Die Behauptung, Goldins Bilder folgten einander „ohne erkennbare Hierarchie, Chronologie, thematische oder formale Ordnung“ (203), erledigt sich bereits mit einem kurzen Blick in die datierte Abbildungsliste am Ende des Bandes, und auch dem angeblichen Verzicht auf „Ränder“ kann angesichts der im Lauf des Buchs wechselnden Bildformate keine Rede sein. Gerade I’ll Be Your Mirror, ein Band, den Goldin zusammen mit dem bekannten Buchdesigner Hans Werner Holzwarth gestaltet hat, wäre ein guter Anlass gewesen, nach dem Anteil von Gestaltern und Verlegern zu fragen und von einem Autorschaftskonzept abzurücken, das sich einseitig an der Vorstellung schöpferisch autonomer Künstlerindividuen orientiert.

Auch für die These, mit Publikationen, die wie Goldins I’ll Be Your Mirror in hohen Auflagen erscheinen, finde das Künstlerbuch in den 90er Jahren „Anschluss an kunstfremde kulturelle Sphären“ (XIII), bleibt Dickel eine Begründung schuldig. Weder die Auflagenhöhe der vom Zürcher Scalo Verlag publizierten Originalausgabe noch der von Zweitausendeins günstiger vertriebene Nachdruck werden genannt. Und was genau meint in diesem Zusammenhang „kunstfremd“? Ist nicht der Begriff der Kunst und deren Verhältnis zur Fotografie gerade angesichts der Karriere neu zu bestimmen, die diese während der letzten Jahrzehnte in den Institutionen der Kunst und auf den einschlägigen Märkten gemacht hat?

Dass Dickels Buch diese Fragen aufwirft, ist Teil seines Verdiensts, dass sie mitunter ohne Antwort bleiben, liegt nicht zuletzt am Aufbau des Bandes, der zu sehr dem von Roth und Parr/Badger etablierten Muster folgt. Einzeldarstellungen in einer häufigen losen Kombination mit repräsentativen Bildbeispielen haben sich bewährt, solange es darum ging, vorab das Korpus zu umreißen. Dabei sind jedoch Fragen aufgetaucht, die eine zusammenhängende, über den Einzelfall hinausweisende Analyse verlangen: Nach welchen Prinzipien werden Bildfolgen in Büchern organisiert? Lässt sich ähnlich wie für die Verlaufskunst Film eine Narratologie oder Montagetheorie des Fotobuchs entwickeln? Wie könnte eine Poetik des Fotobuchs aussehen und welche Rolle spielen für sie Aspekte wie Format oder chromatischer Modus? Hans Dickels sehr schön aufgemachter Band hat einen weiteren, wichtigen Teil des Bestandes erschlossen, macht aber auch deutlich, dass in Sachen Fotobuch auf absehbare Zeit noch viele weiße Flecken bleiben.

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