Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Margareth Otti

Fotograf und Architekt

Éric Cez und Anne Zweibaum / L’Atelier d’édition (Hg.): Le Corbusier / Lucien Hervé. Kontakte. Mit Texten von Michel Richard, Quentin Bajac, Béatrice Andrieux und Jacques Sbriglio,  München: Schirmer/Mosel, 2011, 36 x 26 cm, 296 Seiten, ca. 223 Abb. in Farbe und S/W, Gebunden mit Schutzumschlag, 68 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte 125, 2012

„Vous avez une âme d’architecte et vous savez voir l’architecture.“ Le Corbusier hat nach 40 Jahren endlich den idealen Fotografen für seine Zwecke gefunden, jenen, der „die Seele eines Architekten besitzt“ und der „es versteht, Architektur zu sehen“. Lucien Hervé ist der Fotograf der Bauten Le Corbusiers, der den „Geist“ (S.12) der Architekturen einzufangen weiß und dessen Bildsprache sich hervorragend für die Ikonisierung und Mythisierung der Bauten eignet. Sich der Bedeutung des Mediums der Fotografie für die wirkungsvolle Verbreitung seines Œuvres bewusst, beauftragt Corbusier wechselnde Fotografen, bis Hervé ihm im Dezember 1949 die beachtliche Anzahl von mehr als 600 Abzügen zusendet, die er an einem klaren Sonnentag von der Unité d’habitation in Marseille aufnahm. Der Architekt ist begeistert und formuliert das eingangs erwähnte Zitat im überschwänglichen Antwortbrief, den man im vorliegenden Fotobildband als Originalbrief abgebildet findet. Hervé dokumentiert ab diesem Zeitpunkt für die folgenden 15 Jahre bis zum Tod Le Corbusiers im Jahr 1965 sämtliche Bauwerke und fotografiert auch dessen Modelle und Malereien. So entstehen nicht nur tausende Fotografien, sondern auch mehr als tausend Archivblätter, die Corbusier als Auswahlhilfe und für die Bebilderung von Publikationen, Presseartikeln und als Dokumentationsmaterial verwendet.

Die Faksimileabbildungen dieser Archivblätter sind bildgewichtiger Inhalt des Buches: Auf den bunten Kartons, meist in der Größe 21 mal 32 Zentimeter, sind kleinformatige Schwarz-Weiß-Positive arrangiert und mit Nummerierungen und Markierungen versehen. Diese braunen, rosafarbenen, grauen oder blauen Kartonblätter ähneln im Format und durch die Serien der darauf montierten Kleinbilder einem Kontaktbogen­­­ (das Blatt auf dem überschaubar sämtliche Aufnahmen eines Films abgebildet sind), auf den der Titel des Buches anspielt. Irreführenderweise, denn Hervé hat bereits eine Auswahl getroffen und die kleinformatigen Abzüge bearbeitet, indem er meist den nach seinem Ermessen gefälligsten Ausschnitt gewählt und die Fotografien beschnitten hat. Die Bögen dienten Le Corbusier als übersichtliches Ordnungssystem und als handliches Kommunikationsmittel, sie waren jedoch nie für die Öffentlichkeit bestimmt.

Der prächtige Bildband im Querformat präsentiert nun diese Blätter zu 16 Bauwerken, darunter die Privatwohnung von Le Corbusier in Paris und das Ferienhäuschen in Roquebrune-Cap Martin, die Unité d‘habitation in Marseille, die Kapelle Notre-Dame-du Haut in Ronchamp und das Kloster Sainte-Marie-de-la-Tourette in Éveux, die Regierungsgebäude in Chandigarh und der temporäre Pavillon der Weltausstellung in Brüssel für das Unternehmen Philips von 1958. Die Reproduktionen der Blätter sind von hervorragender Qualität, die kleinen Schwarz-Weiß-Abbildungen heben sich auf den bunten Kartons anschaulich ab und man erkennt Fotografien wieder, die sich als großformatige Prints in den Kanon der Fotogeschichte der Moderne eingereiht haben. Die großartigen Faksimiles können jedoch den Wunsch nicht ersetzen, die Kartonblätter als Originale in die Hand zu nehmen, den haptischen Unterschied zwischen rauem Karton und glatten Fotopapier zu spüren und das Blatt ganz nah ans Auge zu führen, um vielleicht doch Genaueres auf den Mini-Fotografien zu entdecken. Die kleinen Bilder machen es den interessierten BetrachterInnen nicht leicht, die Fotokunst Hervés im Detail zu bewundern; das bestätigen die einzeln eingestreuten großformatigen Abbildungen, die die Eindringlichkeit der Fotografien erst richtig zur Geltung bringen. In ihrer Gesamtheit geben die Bildblätter einen spannenden Einblick in die Zusammenarbeit von Fotograf und Architekt, besonders auf den Aufnahmen des sonst fotoscheuen Le Corbusier, der sich von Hervé in privaten Momenten in oder vor seinen Häusern ablichten lies. Die Bildbögen erlauben durch die Serien von Kleinbildern einen dokumentarischen Überblick der fotografischen Praxis Hervés. Die kontrastreichen, nahezu abstrakten, grafisch-geometrisch konstruierten Aufnahmen, das Spiel mit Licht, Schatten und den Materialien der Oberflächen und die vom „Neuen Sehen“ László Moholy-Nagys geprägten Blickperspektiven haben die  Rezeption und Sichtweise der Bauten der Moderne bedeutend beeinflusst. Oder, wie es Michel Ragon formuliert: „it is difficult, today, to see Le Corbusier’s architecture other than through Hervé’s framing and reframing.“[1]

Drei Texte geben eine kompakte Einführung in die Thematik und führen in die umfangreiche Bildersammlung ein. Michel Richard, der Leiter der Fondation Le Corbusier in Paris, der Heimatinstitution der Originale, ist für das Vorwort verantwortlich, Quentin Bajac, Kurator an Centre Pompidou beschreibt summarisch die Bedeutung der Fotografie für die Bauten der Moderne und erläutert die Spezifität der Bildbögen. Wer die Bögen hergestellt hat, bleibt ein Rätsel: Michel Richard beschreibt nonchalant, die Sekretärin Jeanette (der Nachname wird nicht genannt) hätte die kleinen Bildausschnitte nach Format, Thema und Objekt für Le Corbusier als Ordnungssystem aufgeklebt (S. 8). Ein paar Seiten weiter lobt Bajac die ausgewogene Komposition der Bögen: „Es ist offensichtlich, dass Hervé jede einzelne Bildtafel sorgfältig arrangiert (...) und formal ausbalanciert, damit sie schon auf den ersten Blick als visuell wirkungsvoll und autonom erschient“ (S. 13). Einen Beleg für ihre Behauptung bleiben beide schuldig, sodass die zentrale Frage nach dem Autor der Archivblätter nach wie vor unbeantwortet ist. Auch die Ursache und das System hinter den wie Geheimzeichen wirkenden Nummerierungen, Markierungen und Kennzeichnungen auf den Bögen bleiben unergründet.

Die Arbeitsbeziehungen der beiden Kreativen mit ihren Höhen und Tiefen zeigt Béatrice Andrieux in ihrem Beitrag mit pointierten Zitaten aus dem regen Briefwechsel der beiden Protagonisten. Man würde gerne mehr aus diesen Briefen lesen und über die Begegnung dieser beiden unterschiedlichen Charaktere erfahren, aber Kern des Bandes ist nicht das Wort, sondern das Bild. Die präsentierten Bauwerke werden in kurzen Einleitungen von Jacques Sbriglio vorgestellt, die in ihrer überschwänglichen Begeisterung für das Werk Corbusiers jeder kritischen Distanz entbehren. Die begleitenden Texte des Bildbandes sind insgesamt informativ; durch eine tiefergehende Forschungsarbeit und Recherche zu dem sehr spannenden Bildmaterial böte die Publikation jedoch mehr als nur einen visuellen Genuss. So wirken die Kontakte als weiterer dicker Bildbandim Meer der Veröffentlichungen zu Le Corbusier etwas verloren und die Bildbögen erscheinen wie unbearbeitete Rohdiamanten, die durch einen wissenschaftlichen Schliff erst richtig zur Geltung kämen.


[1]Michel Ragon: Vorwort zu Portfolio Lucien Hervé, Paris 1998.

Letzte Ausgaben

 

Hefte ab 150 | Siehe auch: Themen- und Stichwortsuche | Hefte und Einzelbeiträge aus dem Archiv auch als PDF bestellbar.

173

Fotokampagnen

Bilder im Einsatz

Franziska Lampe (Hg.)

Heft 173 | Jg. 44 | Herbst 2024

 
172

Vermessene Bilder

Von der Fotogrammetrie zur Bildforensik

Mira Anneli Naß, Steffen Siegel (Hg.)

Heft 172 | Jg. 44 | Sommer 2024

 
171

Verletzte Bilder

Anton Holzer, Elmar Mauch (Hg.)

Heft 171 | Jg. 44 | Frühjahr 2024

 
170

Mehr als ein Raum

Das fotografische Atelier: Kunst, Geschäft, Industrie

Anne Vitten (Hg.)

Heft 170 | Jg. 43 | Winter 2023

 
169

Vom Lichtbild zum Foto

Zur westdeutschen Fotoszene der 1950er Jahre

Clara Bolin (Hg.)

Heft 169 | Jg. 43 | Herbst 2023 

 
168

Kritik der Autorschaft

Fotografie als kollektives Unternehmen

Paul Mellenthin (Hg.)

Heft 168 | Jg. 43 | Sommer 2023 

 
167

Artist Meets Archive

Künstlerische Interventionen im fotografischen Archiv

Stefanie Diekmann, Esther Ruelfs (Hg.)

Heft 167 | Jg. 43 | Frühjahr 2023 

 
166

Schreiben über Fotografie II

Steffen Siegel, Bernd Stiegler (Hg.)

Heft 166 | Jg. 42 | Winter 202

 
165

Erinnerung, Erzählung, Erkundung

Fotoalben im 20. und 21. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone (Hg.)

Heft 165 | Jg. 42 | Herbst 2022

 
164

Zirkulierende Bilder

Fotografien in Zeitschriften

Joachim Sieber (Hg.)

Heft 164 | Jg. 42 | Sommer 2022

 
163

Black Box Colour

Kommerzielle Farbfotografie vor 1914

Jens Jäger (Hg.)

Heft 163 | Jg. 42 | Frühjahr 2022

 
162

Den Blick erwidern

Fotografie und Kolonialismus

Sophie Junge (Hg.)

Heft 162 | Jg. 41 | Winter 2021

 
161

Norm und Form

Fotoalben im 19. Jahrhundert

Bernd Stiegler, Kathrin Yacavone

Heft 161 | Jg. 41 | Herbst 2021

 
160

Keepsake / Souvenir

Reisen, Wanderungen, Fotografien 1841 bis 1870

Herta Wolf, Clara Bolin (Hg.)

Heft 160 | Jg. 41 | Sommer 2021

 
159

Weiterblättern!

Neue Perspektiven der Fotobuchforschung

Anja Schürmann, Steffen Siegel (Hg.)

Heft 159 | Jg. 41 | Frühjahr 2021

 
158

Die Zukunft der Fotografie

Anton Holzer (Hg.)

Heft 158 | Jg. 40 | Winter 2020 

 
157

Fotogeschichte schreiben. 40 Jahre Zeitschrift Fotogeschichte

Anton Holzer (Hg.)

Heft 157 | Jg. 40 | Herbst 2020 

 
156

Aquatische Bilder. Die Fotografie und das Meer

Franziska Brons (Hg.)

Heft 156 | Jg. 40 | Sommer 2020 

 
155

Wozu Gender? Geschlechtertheoretische Ansätze in der Fotografie

Katharina Steidl (Hg.)

Heft 155 | Jg. 40 | Frühjahr 2020

 
154

Protestfotografie

Susanne Regener, Dorna Safaian, Simon Teune (Hg.

Heft 154 | Jg. 39 | Winter 2019

 
153

Fotografie und Text um 1900

Philipp Ramer, Christine Weder (Hg.)

Heft 153 | Jg. 39 | Herbst 2019

 
152

Fotografie und Design

Linus Rapp,  Steffen Siegel (Hg.)

Heft 152 | Jg. 39 | Sommer 2019

 
151

Nomadic Camera

Fotografie, Exil und Migration

Burcu Dogramaci, Helene Roth (Hg.)

Heft 151 | Jg. 39 | Frühjahr 2019

 
150

Polytechnisches Wissen

Fotografische Handbücher 1939 bis 1918

Herta Wolf (Hg.)

Heft 150 | Jg. 38 | Winter 2018