Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Nina Hausmeister

Man sieht, was man sehen will

Bernd Stiegler: Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2011, 256 S., 21 x 13 cm, zahlreiche S/W-Abbildungen, gebunden, 19,95 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte 125, 2012

„Fotografieren heißt Sterblichkeit inventarisieren. […] Fotografien konstatieren die Unschuld, die Verletzlichkeit, die Ahnungslosigkeit von Menschen, die ihrer eigenen Vernichtung entgegengehen, und gerade die Verknüpfung zwischen Fotografie und Tod verleiht allen Aufnahmen von Menschen etwas Beklemmendes“[i], schreibt Susan Sontag. Die meisten Fototheorien sprechen von einem substantiellen Zusammenhang zwischen Fotografie und Tod. Eine Fotografie impliziert immer auch das Vergängliche, das Tote, das Gewesene, das nicht mehr existiert. Spricht man von Fotografie, so muss man zwangsläufig auch vom Tod sprechen.

Auch Bernd Stiegler kommt in seinem Buch Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina auf diesen Zussammenhang zu sprechen. „Optogramme sind immer letzte Bilder, vom Tod gezeichnet. Der Moment des Todes unterbricht den ununterbrochenen Fluß der Wahrnehmung und stellt den kontinuierlichen Film der flackernden Bilder mit einem Mal still, verwandelt ihn in ein nahezu photographisches Standbild.“ (S. 7) Er zeigt, wie die Faszination an den Theorien des Optogramms, wonach sich auf der Netzhaut eines Toten dessen letzte Bilder abzeichnen, im 19. Jahrhundert entstand. Die fotografische Metaphorik entsteht dabei nicht zufällig. „Nicht nur, daß photographische Verfahren dazu genutzt werden, um die Bilder von der Retina zu extrahieren, zu vergrößern und so überhaupt erst wahrnehmbar zu machen, auch das Auge wird seinerseits bereits als Kamera vorgestellt, die wie ein Photoapparat Bilder aufzeichne.“ (S. 8)

Die Beschäftigung mit der Analogie des Auges und der Fotografie hat in der Forschungsarbeit Stieglers bereits eine längere Tradition. So hat der Literatur- und Medienwissenschaftler seine Habilitationsschrift im Jahr 2001 unter dem Titel Die Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert herausgegeben oder sich mit dem Text „Dem Tod ins Auge schauen“für den Katalog zur Ausstellung „Darkside II. Fotografische Macht und fotografierte Gewalt, Krankheit und Tod“ im Fotomuseum Winterthur mit dem Thema auseinandergesetzt. Im vorliegenden Buch setzt er sich umfassend mit der Geschichte der Optogramme auseinander.

Als in San Francisco im Jahr 1863/64 eine junge Frau von einem unbekannten Mörder getötet wurde, schlug der dortige Polizeichef eine interessante Untersuchungsmethode vor, um diesen Unbekannten zu ermitteln. Es wurde ein Fotograf beauftragt, die Retina der Frau zu fotografieren, um darauf das letzte Bild, das Bild des Mörders, zu entdecken. Die dabei entstandene Ambrotypie, die zehnfach vergrößert wurde, zeigte anfangs nur „ein verworrenes Bild“ (S. 10). Nach einer gewissen Zeit ließen sich eine Hakennase, eine niedrige Stirn, dichte, schwarze Augenbrauen und ein Bart erkennen. Auch wenn das Bild undeutlich war, waren die Ermittler davon überzeugt, dass es sich bei dieser dargestellten Person um einen Mexikaner handelt, der sich seit einer Woche in der Nähe des Hauses herumtrieb. „Der allgemeine Eindruck, der im Gedächtnis bleibt, ist, daß man das bleiche Antlitz eines Mexikaners gesehen hat.“ (S. 11) Man sieht, was man sehen will. Die Entdeckung der Optogramme fällt in die Epoche des Okularzentrismus, der dem Auge eine Vorrangstellung zuspricht. Die Optogramme sind die Art von Bildern, die Evidenz versprechen. Sie sind aber weit mehr Bilder der Vorstellung und der Phantasie als der Realität.

Bernd Stiegler erzählt in seinem Buch die Geschichte der Optogramme als Grenzgang zwischen seriöser Wissenschaft, Pseudowissenschaft, Volksglauben und Fiktion. Diese Geschichte führt in das Zentrum einer Kultur, die mit der jungen Erfindung der Fotografie den Garant auf ein neues Sehen und damit einhergehend neuen Möglichkeiten verband. Der Glaube an die Möglichkeiten der Optogramme war in den Anfangsjahren sehr groß. Heinrich Boll entdeckte gemeinsam mit Wilhelm Kühne 1877 in der Stäbchenschicht der Retina das Rhodopsin oder Sehpurpur – einer relevanten Errungenschaft für die Optographie. Wilhelm Kühne, der an der Universität Heidelberg den Lehrstuhl für Physiologie als Nachfolger von Hermann von Helmholtz übernahm, hat den Begriff des Optogramms und der Optographie geprägt. Er experimentierte mit Albinohasen, Fröschen und diversen anderen Tieren, um schließlich auch die Retina des Menschen erforschen zu können. Um Hermann von Helmholtz’ Zweifel hinsichtlich der Optogramme zu wiederlegen, wollte er diesem ein optographisches Portrait seiner Person schicken, was ihm nicht gelang. „Ein Experiment als performativer Akt.“ (S. 48) Für das Experiment mussten zahlreiche Albinohasen ihr Leben lassen, bis die Versuchsreihe ohne zufriedenstellendes Ergebnis beendet wurde.

Stieglers Untersuchung erschöpft sich nicht in solchen frappierenden Exkursen in die Geschichte der Wissenschaft. In insgesamt sechs Kapiteln duchmisst er die Geschichte der Optogramme. Von der Entdeckung der Optographie bis hin zur Verwendung der Optogramme im Bereich der Kriminologie führt ihn seine literarische Reise auch in die Literatur- und Filmgeschichte. Das Buch schließt mit der neuzeitlichen Verwendung der Optogramme und endet mit dem Satz „Am Ende des optogrammatischen Zeitalters steht das weit geöffnete Auge auf einem Display und blickt uns an.“ (S. 214) – eine Anspielung auf den Gebrauch des Begriffes der Retina der Firma Apple.


[i]Susan, Sontag: Über Fotografie. Übersetzt von Mark W. Rien und Gertrud Baruch, Frankfurt am Main, 1980, 16. Aufl. 2004, S. 148 f.

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