Anton Holzer
In Bildern argumentieren
Werner Oechslin, Gregor Harbusch (Hg.): Sigfried Giedion und die Fotografie. Bildinszenierungen der Moderne, Zürich: gta Verlag, 2010, mit Aufsätzen von Werner Oechslin, Martin Gasser, Andreas Haus, Olivier Lugon, Daniel Weiss, Gregor Harbusch, Reto Geiser, Bruno Maurer und Arthur Rüegg, 27,5 x 24 cm, 303 S., zahlreiche Abb. in S/W und Farbe, 58 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 119, 2011
Als Kunst-, Architektur- und Kulturhistoriker ist Sigfried Giedion (1888–1968) weithin bekannt. Seine Rolle als Fotograf hingegen ist, wenn man von einigen wenigen Beispielen wie seinem eigenhändig illustrierten Band Befreites Wohnen (in der populären Reihe „Schaubücher bei Orell Füssli, 1929) oder seiner Präsenz als Fotograf auf der berühmten Ausstellung „Film und Foto“ (FiFo) 1929 absieht, weitgehend unbekannt. Umso erfreulicher ist es, wenn nun mit dem Band Sigfried Giedion und die Fotografie. Bildinszenierungen der Moderne ein Vergessener der modernen Fotografie ausführlich gewürdigt wird. Der Band ist das gelungene Ergebnis eines mehrjährigen Forschungsprojektes an der ETH Zürich. Ziel war es, den aus rund 2.500 Fotografien bestehenden und auch zahlreiche schriftliche Aufzeichnungen umfassenden Nachlass Giedions (der an der ETH aufbewahrt wird) unter dem Aspekt der Fotografie zu erforschen und aufzuarbeiten. Mehrere längere Aufsätze führen aus unterschiedlichen Perspektiven in das fotografische Werk Giedions ein. Anschließend werden einzelne Aspekte in sog. „Fallstudien“ vertieft.
Das Buch ist bewusst sehr breit angelegt. Es stellt zwar die Fotoarbeiten Giedions in den Mittelpunkt, erschöpft sich aber nicht in einer schmalspurigen biografischen Rekonstruktion. Vielmehr werden, ausgehend von Giedion, zahlreiche thematische und biografische Fäden ausgelegt: etwa, um nur wenige Beispiele zu nennen, zu Moholy-Nagy, mit dem Giedion seit Mitte der 1920er Jahre befreundet war und mit dem er jahrelang eng zusammengearbeitet hat, aber auch zu Hans Finsler, dem Pionier der modernen neusachlichen Fotografie in der Schweiz, zu Architekten wie Le Corbusier und Alvar Aalto. Auf diese Weise entsteht entlang der Figur Giedion – gewissermaßen en passant – eine Art Kulturgeschichte der Moderne, die viel Neues und Interessantes zutage fördert. Erfreulicherweise wird Giedions fotografischer Nachlass nicht – wie das vielleicht zu erwarten gewesen wäre, hätte sich ein Kunstmuseum dieses Bestandes angenommen – in ein verklärendes Kunstlicht gehoben, sondern in all seiner Mehrdeutigkeit (und auch Widersprüchlichkeit) vorgestellt und interpretiert. Das bedeutet auch, dass nicht so sehr Einzelbilder, sondern vielmehr Bildreihen und -ensembles in all ihren medialen Verschränkungen untersucht werden. Es bedeutet aber auch, dass der publizistische Aspekt der Bildverwendung in der Analyse sehr stark im Vordergrund steht. Es wird nicht nur genau rekonstruiert, für welche Medien (Bücher, Zeitschriften, Ausstellungen etc.) Giedion arbeitete, sondern auch anschaulich nachgezeichnet, wie er in Bildern argumentierte. Auch die Tatsache, dass Giedion, verglichen mit den Pionieren der modernen Fotografie, ein ziemlich mittelmäßiger Fotograf war, wird nicht verschwiegen.
Werner Oechslin stellt einleitend Giedion in einen breiten kultur- und ideengeschichtlichen Kontext. Er arbeitet mit derart vielen Querverweisen, dass stellenweise der Überblick verlorenzugehen scheint. Martin Gasser dagegen beschreibt in seinem lesenswerten Text Giedions Rolle in der Propagierung der Neuen Fotografie in der Schweiz um 1930. Er zeigt im Detail, wie sich Giedion auf die Seite der Neuerer stellte und (vergeblich) versuchte, die wegweisende Stuttgarter Ausstellung „Film und Foto“ nach Zürich zu holen. Andreas Haus zeichnet Giedions Rolle im Kontext der Architekturfotografie nach. Er zeigt, wie zweckgebunden Giedion die Bilder verwendete und wie sehr sich seine oft ästhetisch anspruchslosen Fotos von den Inszenierungen anderer Architekturfotografen der Moderne unterscheiden. Hochinteressant ist der Beitrag von Olivier Lugon, der durch die Brille Giedions (genauer: über seinen schritlichen Nachlass) die Entstehungsgeschichte der Ausstellung „Film und Foto“ rekonstruiert und dabei zahlreiche neue, teilweise der bisherigen Forschung widersprechende Erkenntnisse gewinnt. In diesem Zusammenhang wird besonders die Zusammenarbeit zwischen Giedion und Moholy-Nagy beleuchtet. Lugon zeigt, wie sehr letzterer von ersterem beeinflusst wurde, wie sehr Moholy-Nagys kulturgeschichtlicher Blick in die Vergangenheit die Ideen-Handschrift Giedions trägt.
Giedion beschäftigte sich seit den frühen 1920er Jahren mit der Fotografie. Seit 1925 setzte er sie systematisch für seine Arbeit ein. Sein visuelles Experimentieren ist weniger einem innovativen Umgang mit der Kamera als vielmehr dem argumentativen, publizistischen und didaktischen Einsatz der Fotografie gerschuldet. Dieses Experiment ist ganz deutlich an die Aufbruchstimmung der Moderene in der europäischen Zwischenkriegszeit gebunden. Als Giedion 1937 als Professor nach Harvard berufen wurde, trat seine Arbeit in eine neue Phase. Er publizierte nun auf Englisch für eine vorwiegend amerikanische Leserschaft. Er vertiefte sein Interesse an der Architektur- und Kulturgeschichte. Zentral für diesen Einschnitt ist das Buch Space, Time and Architecture, das 1941 erschien. Gestaltet wurde es von Herbert Bayer, der wenige Jahre zuvor noch im Dienst der Nationalsozialisten an Ausstellungen in Deutschland mitgearbeitet hat, sich aber in den USA schnell einen Namen als innovativer Gestalter der Moderne machte. Wie eng in Giedions Arbeit die Verzahnung zwischen Wort, Bild und Buch ist, zeigt Gregor Harbusch in seinem fundierten Beitrag über die lange und komplexe Publikationsgeschichte dieses Bandes. Im abschließenden Beitrag von Reto Geiser wird Giedions Kunstvermittlung dies- und jenseits des Atlantiks dargestellt.
Lesenswert sind auch die meisten der kürzeren „Fallstudien“, die gut geschrieben und vorbildlich bebildert sind. Zahlreiche Aspekte, die in den Haupttexten nicht vorkommen, werden hier angerissen und vertieft: Giedions zahlreiche Reisen etwa, seine Verbindungen zur internationalen Architekturszene, seine eigenen Bauten, seine thematisch weit gefächerten Schriften und vieles andere mehr. Zur Sprache kommt auch sein didaktisches Handwerkszeug, zu der u.a. seine mehrere tausend Dias umfassende Lehrbildersammlung gehört, die er für Vorträge und Publikationen verwendete und die ebenfalls einen interessanten Einblick in die Bildargumentation Giedions gibt.
Es gibt wenig auszusetzen an dieser vorbildichen Publikation, außer vielleicht die Tatsache mancher inhaltlichen Überscheidung (etwa kommt die Zusammenarbeit Giedion-Moholy-Nagy in mehreren Beiträgen vor). Schade ist eigentlich nur, dass kein eigener Beitrag einen umfassenden biografischen Überblick bietet. Dieser erschließt sich eher indirekt aus den einzelnen Texten. Insgesamt ist dieses Buch aber weit mehr als eine Darstellung der fotografischen Arbeit Giedions. Es ist ein wegweisendes Projekt einer fotohistorischen Edition, ein kulturgeschichtliches Vorzeigeprojekt, wie man mit Fotografie, die aus den Tiefen der Archive kommt, sinnvoll und angemessen umgehen kann und soll.
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