Anton Holzer
Recherchen in den Fotoalben deutscher Soldaten
Petra Bopp: Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld: Kerber Verlag, 2009, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Stadtmuseum Oldenburg, 19. Juni bis 13. September 2009, im Münchner Stadtmuseum – Sammlung Fotografie, 19. November 2009 bis 28. Februar 2010, im Historischen Museum Frankfurt am Main, 14. April bis 28. August 2010, im Stadtmuseum Jena, 23. September bis 14. November 2010, 160 S., 23 x 28 cm , zahlreiche Abb. in S/W und Farbe, 29,80 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 115, 2010
Als vor 10 Jahren die sog. „erste Wehrmachtsausstellung“ (1995 bis 1999) mit einem Eklat zu Ende ging, standen die Ausstellungsmacher am Pranger: Sie hätten es, so hieß einer der pauschalen Vorwürfe, an Sorgfalt im Umgang mit fotografischen Quellen mangeln lassen. In der Folge verschwand das Thema der deutschen Kriegsfotografie im Zweiten Weltkrieg weitgehend aus der Agenda der deutschen historischen Forschung. Das Thema schien heikel, die Forscher und Forscherinnen scheuten die Auseinandersetzung, denn Missverständnisse und Vorwürfe schienen vorprogrammiert. Gewiss, es gab in den Jahren danach einige verstreute Publikationen zum Thema.[1] Und es gab die nachfolgende „zweite Wehrmachtsausstellung“ (2001 bis 2004), die sich explizit auch mit dem Thema Fotografie im Krieg beschäftigte. Aber auffallend wenige private Aufnahmen fanden Eingang in diese Schau. Bilder, deren Herkunft und Lesweise nicht eindeutig zu fixieren waren, deren Botschaften nicht auf klare Textaussagen zu reduzieren waren, ließen die Kuratoren unberücksichtigt. Man wollte um jeden Preis die Diskussionen rund um die erste Ausstellung vermeiden und so umging man auch ein breites Themenfeld soldatischer Wahrnehmung, nämlich die private Knipserfotografie.
Die Hamburger Kunsthistorikerin Petra Bopp, die auch an der „ersten Wehrmachtsausstellung“ mitgearbeitet hatte, legt nun, ein Jahrzehnt nach dem Ende dieser Schau, eine Publikation vor, die sich mit genau diesem Thema beschäftigt: den privaten Fotografien von deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Das Buch bildet zugleich den Abschluss eines mehrjährigen Forschungsprojektes („Privatfotografien von deutschen Wehrmachtssoldaten im Zweiten Weltkrieg“), das die Autorin mit Unterstützung der DFG von 2004 bis 2006 an der Universität Oldenburg durchgeführt hatte. Sie setzte dieses Projekt von April 2006 bis Dezember 2008 an der Universität Jena fort und schloss es dort ab. Gefördert wurde dieses Anschlussprojekt mit den Mitteln der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Die Publikation ist zugleich der Katalog zu einer Ausstellungsreihe im Stadtmuseum Oldenburg (Sommer 2009), im Stadtmuseum München (Winter 2009/2010), im Historischen Museum Frankfurt am Main (Frühjahr/Sommer 2010) und im Stadtmuseum Jena (Herbst 2010). Auf diese Weise werden die Ergebnisse der mehrjährigen Forschung nicht nur einem Spezialistenpublikum zugänglich gemacht, sondern, was besonders zu begrüßen ist, einer breiten Öffentlichkeit.
Auffallend ist, dass der Titel der Ausstellungsreihe („Fremde im Visier – Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg“) anders als der Titel des Forschungsprojektes drei Begriffe meidet: „deutsch“, „Wehrmacht“, „Soldaten“. Ist das Zufall? Wohl kaum. Die Assoziationen und Debatten, die die „erste Wehrmachtsausstellung“ hervorgerufen hat, werden hier bewusst gemieden. Anklagen in Bezug auf die deutsche Kriegsführung und spektakuläre visuelle Enthüllungen suchen wir in diesem Band vergeblich. Der Grund liegt aber nicht nur darin, dass das vorliegende Projekt sich dezidiert vom Projekt „Wehrmachtsausstellung“ abhebt, sondern er liegt auch im unterschiedlichen methodischen Zugang. Die Autorin argumentiert als Kunsthistorikerin und Bildwissenschaftlerin. Als solche ist sie weniger an den konkreten historischen Zusammenhängen interessiert als vielmehr an den Geschichten in und zwischen den Bildern. „Aus den vorliegenden visuellen Zeugnissen“, schreibt sie, „ wird ersichtlich, wie der Krieg gesehen wurde – nicht wie er war.“ Damit verschiebt sich die Perspektive der Betrachtung grundlegend gegenüber der „ersten Wehrmachtsausstellung“, die durchaus zeigen wollte, „wie der Krieg war“.
Die Herangehensweise von Petra Bopp hat große Vorzüge. Die untersuchten Bilder werden nicht in ein vorab definiertes Interpretationsschema eingepasst (wie dies bei der „ersten Wehrmachtsausstellung“ teilweise erfolgt ist). Die Fotoalben werden als Dokumente der individuellen und kollektiven Wahrnehmung ernst genommen, sie werden als geschlossene Konvolute untersucht, ihre Erzählweise und vielschichtige Argumentation werden nicht auf eine simple Botschaft reduziert. Auf diese Weise gelingt es der Autorin, ein bislang in der Forschung zur Kriegsfotografie vernachlässigtes Medium, das private Album von Soldaten, in vielfältigster Weise zum Sprechen zu bringen. Während die „erste Wehrmachtsausstellung“ die Fotografie vor allem als Beweismittel einsetzte, geht es Petra Bopp eher ums Verstehen.
Ihre methodische Vorgangsweise hat aber auch Nachteile: Sie umgeht die Auseinandersetzung mit den komplexen historischen Hintergründen des „Vernichtungskrieges“, in das „typische“ Quellenmaterial der herkömmlichen Weltkriegshistoriker, die Texte und Archivalien, taucht sie nur am Rande ein. Stattdessen argumentiert und analysiert sie vorwiegend innerhalb des Bilderkosmos. Informationen über die Art der Kriegsführung, den Alltag der Soldaten, die Befehlsketten vor Ort und im Hinterland, die Logistik des Krieges, die Aufgaben der unterschiedlichen Truppenteile etc., also auch über das Verhältnis von Sehen, Wissen und Tun, kommen in ihrer Untersuchung nur am Rande vor. Das hat durchaus seine Gründe: viele der Fotos und Alben sind ohne oder nur mit wenigen Kontextinformationen überliefert. Viele der Besitzer dieser Alben leben nicht mehr, wollen oder können keine umfassenden Auskünfte mehr geben. Diese schwierige Quellenlage hat die Arbeit am Thema sicher erschwert. Aber sie hat auch dazu geführt, dass der Vorstellungsraum zwischen den Bildern belebt werden konnte. In aufmerksamen Bildanalysen macht Petra Bopp einiges wett, was an biografischer Kontextualisierung verloren gegangen ist.
Insgesamt hat die Autorin rund 150 Konvolute – vor allem aus Norddeutschland – untersucht. In die Ausstellung gingen Leihgaben von etwa 100 Personen eine. Die Herkunft der Bilder ist genau angegeben, das Bildmaterial dem Stand der Forschung entsprechend sorgfältig beschrieben und im Druck gut wiedergegeben. Ein Teil der der untersuchten Alben stammt aus bestehenden öffentlichen Sammlungen (etwa der Sammlung Timm Starls, die dieser im Zuge seiner Arbeit am Buch- und Ausstellungsprojekt Knipser. Eine Geschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich 1880 bis 1980, München 1995 zusammengetragen hat und später die an die Fotosammlung des Stadtmuseums München übergeben hat), vor allem aber aus privaten Beständen. Die Autorin ist auf zahlreiche Bilder und Alben durch Zeitungsankündigungen und -aufrufe gestoßen, in denen ihr Projekt vorgestellt wurde. Im Zuge dieser Recherchen führte Petra Bopp auch zahlreiche Interviews mit den Besitzern der Alben und deren Nachfahren. Durch diese Nachforschungen tauchte weiteres schriftliches Material (Tagbücher und andere Aufzeichnungen) auf, das in die Analyse einbezogen wurde. Dieser dialogische Rechercheprozess fließt – das sei besonders hervorgehoben – auch in die Darstellung des Themas im Buch ein. Auf diese Weise wird auch ein Stück Überlieferungs- und Erinnerungsgeschichte transparent gemacht. Zudem wird das Material bewusst in einem lebensgeschichtlichen Zusammenhang gestellt (eine Dimension, die in der „ersten Wehrmachtsausstellung“ in Bezug auf die Bilder fast vollkommen fehlte). Die Fotos und Alben werden als biografische Dokumente nicht als und nicht als isolierte Beweistücke vorgeführt.
Welches Bild des Krieges zeigt sich in 150 Konvoluten? Ist denn, so könnte man fragen, die Auswahl repräsentativ? Inwiefern können diese Bilder stellvertretend für die Millionen von Knipserfotos aus dem Zweiten Weltkrieg stehen? Wenn wir die Themen, geografischen Räume und Zeiträume der Bilder überblicken, könnte man natürlich einige Lücken entdecken. Der Krieg in Nordafrika und am Mittelmeer kommt kaum vor, ebenso wenig jener in Skandinavien. Auch der Bereich Seekrieg ist ausgeklammert. Aber diese Einwände gehen am Vorhaben der Autorin vorbei. Sie strebt keine allgemeingültigen Aussagen über „die“ deutschen Soldaten an, sondern verwendet das vorhandene Bildmaterial, um Aufschlüsse zu Fragen der soldatischen Wahrnehmung in ausgewählten Alben und Fotosammlungen zu erlangen. Die Themen des Katalogs und der Ausstellung greifen diese Fragestellungen auf. Sie fokussieren, innerhalb meist eng umgrenzter Kapitel, einzelne Aspekte des Themas: die Frage der Erinnerung in Bildern, die Handhabung des Fotoalbums im Krieg, das Verhältnis zwischen Schwarz/Weißen und farbigen Bildern, die Bilder der Eroberung (Frankreich 1940), die Wahrnehmung von Einheimischen und Frauen, die Darstellung der Gewalt an der Zivilbevölkerung, die Bilder aus den Gefangenlagern nach Kriegsende. Besonders dieses Kapitel über die Kriegsgefangenenlager zeigt auf überzeugende Weise, dass der Krieg in vielen Alben nicht 1945 zu Ende war. Anhand von bisher unbekanntem Material aus v.a. englischen Gefangenenlagern untersucht Petra Bopp beispielhaft die Nachgeschichte des Krieges. Die Autorin zeigt auf diese Weise auch, dass es in den fotografischen Erinnerungen den „Schlussstrich“ 1945 nicht gab, denn ein Gutteil der Alben wurde erst nach 1945 zusammengestellt, zu einer Zeit also, als Krieg und Nationalsozialismus vorbei waren.
Nicht immer, so argumentiert Petra Bopp, war es einfach, die private von der offiziellen Fotografie zu trennen. Fotoalben sind kommunizierende Gefäße, das Bildmaterial, das sie bündeln, stammt oft aus der Hand (und der Kamera) des Besitzers. Immer wieder aber wurden auch Bilder fremder Herkunft, etwa von offiziellen Fotografen, vor allem von PK (Propagandakompanie)-Fotografen in private Konvolute eingefügt. Diesem Bilderkreislauf zwischen privaten Aufnahmen und offiziellen Bildern hätte man noch intensiver nachgehen können. Man hätte an einzelnen Beispielen danach fragen können, ob und wie die Propagandabildwelt in die private Wahrnehmung einsickert und inwieweit die Ästhetik der privaten Fotografie auch Rückwirkungen auf die PK-Fotografie hatte. Da es bis heute keine halbwegs umfassende, verlässliche und methodisch überzeugende Arbeit über die deutsche Propagandafotografie gibt, wäre dieser Vergleich wohl nur beispielhaft zu leisten gewesen.
Der Umschlag des Buches von Petra Bopp irritiert: Wir sehen eine scheinbar idyllische Szene: Eine Frau, aufgenommen von schräg oben, überquert einen Fluss. Das gekräuselte Wasser hinter ihr spiegelt das Sonnenlicht, der lange Schatten der Frau wird auf die glatte Wasseroberfläche geworfen. Ist das ein Kriegsbild? Es ist ein Kriegsbild, eines allerdings, das seine kriegerische Bedeutung nicht auf Anhieb enthüllt, sondern erst im Kontext weiterer Bilder und Informationen aus dem Archiv freigibt. Aufgenommen wurde das Bild von einem nicht namentlich bekannten PK-Fotografen im Juni oder Juli 1942 in der Sowjetunion, im Gebiet zwischen Donez und Don. Im aufwändigen Vergleich unterschiedlicher privater Alben und Konvolute, in denen das Bild eingefügt ist, zeigt sich, dass die Idylle trügt: Das Foto trägt den Titel „Die Minenprobe“, die einheimische Frau wurde vor den deutschen Truppen ins Wasser geschickt, um zu prüfen, ob das Gewässer vermint ist. „Da mit Verminung zu rechnen ist“, heißt es in einem deutschen Befehl vom 9. September 1942, „ist für die Bereitstellung von Minensuchgerät (Juden oder gefangene Bandenangehörige mit Eggen und Walzen) in ausreichender Zahl zu sorgen.“
Erst auf den zweiten oder dritten Blick also zeigt sich an diesem Beispiel, wie nahe scheinbare Idylle und kriegerische Gewalt beieinander liegen. Und es zeigt sich auch, dass der Krieg, der bis heute als Krieg an der Frontlinie imaginiert wird, sich weit ins Hinterland verzeigte. Die Zivilbevölkerung war, vor allem in der Sowjetunion, systematisch Ziel der Kriegsführung, auch wenn dieser Aspekt in der verbreiteten Bildwelt des Krieges kaum vorkommt. Das Bildbeispiel auf dem Umschlag verweist nicht nur auf die Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit von Bildern im biografischen und historischen Prozess. Es steht auch exemplarisch für die Arbeitsweise der Autorin: sie nähert sich dem Material auf umsichtige, differenzierte Weise, sie vermeidet es, vorschnelle Schlüsse zu ziehen und belässt dem Eigensinn, den alle fotografischen Bilder mit sich tragen, seinen Raum.
Wenn man die Bildwelt der Fotoalben genauer untersucht, stößt man auf das Bemühen der Besitzer, die harten und gewaltsamen Erfahrungen des Krieges in kontinuierliche Erzählungen zu gießen. Und dennoch: immer wieder wird dieses Vorhaben durch Brüche zunichte gemacht: Verwundung, Tod, Rückzug, Enttäuschung, Erschöpfung, Scham, all diese Einbrüche in das scheinbar stabile Soldatenleben: auch sie kommen in den Alben vor, oft indirekt und mehr zwischen als in den Bildern. In der Folge kommt die kontinuierliche Dramaturgie plötzlich ins Wanken, manchmal enden Alben abrupt, oft wird die Erzählung im Nachhinein verändert. Zahlreiche Alben enthalten Lücken. Hier wurden Bilder entfernt, die, manchmal Jahre, nachdem sie eingeklebt wurden, untragbar und unzeigbar geworden waren. Oft sind die Bilder, die diese Lücken einstmals füllten, Aufnahmen extremer Gewalt, sie zeigen Erschießungen oder Hinrichtungen. Auch diese Lücken, so argumentiert Petra Bopp, erzählen Geschichten. Und daher endet die Auseinandersetzung mit dem Thema im letzten Kapitel („Das letzte Bild“) des Buches mit einer leeren Albumseite. Nein, ganz leer ist sie nicht, denn es sind noch die vier Klebereste zu erkennen, die Spuren des Bilder, das hier entfernt wurde.
Insgesamt ist die Arbeit von Petra Popp eine spannende und gelungene Auseinandersetzung mit dem Thema Fotografie und Krieg. Die Diskussionen und Debatten am Rande der vier Ausstellungen werden zeigen, ob die Publikation und Schau dazu beitragen, das Thema der privaten deutschen Soldatenfotografie im Zweiten Weltkrieg nach der „ersten Wehrmachtsausstellung“ wieder zu enttabuisieren. Das wäre die Voraussetzung, um mehr von jenem Krieg zu erfahren, dessen weit verzweigte Bild- und Erfahrungswelt nach wie vor zu wenig aufgearbeitet ist. Viel Material lagert noch ungesichtet in den Schublanden deutscher (und österreichischer) Familien. Die Alben und Konvolute, die dieses untergründige Wissen beinhalten, wurde längst von der Kriegsgeneration an dessen Nachfahren weitergereicht, samt der Bürde schwer erträglicher Gefühle wie verletzter Stolz, Scham und unterdrückte Neugierde, Wut und Trauer. In den Bildern werden diese Gefühle weitergetragen. Erst wenn diese sichtbar werden, besprochen und diskutiert werden, ist eine andere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit denkbar, als sie im heftigen medialen Kreuzzug der „ersten Wehrmachtsausstellung“ erfolgte. Eine Auseinandersetzung, die über heftige Anklage und blinde Abwehr hinausgeht.
[1] Zu nennen sind etwa: Bernd Boll: „Das Adlerauge des Soldaten.“ Zur Fotopraxis deutscher Amateure im Zweiten Weltkrieg, in: Fotogeschichte, Heft 85/86, 2002, Kathrin Hoffmann-Curtius: Trophäen und Amulette. Die Fotografien von Wehrmachts- und SS-Verbrechen in den Brieftaschen der Soldaten, in: Fotogeschichte, Heft 78, 2000, Peter Jahn, Ulrike Schmiegelt (Hg.): Foto-Feldpost. Geknipste Kriegserlebnisse 1939-1945, Berlin 2000 sowie zuletzt Miriam Y. Arani: Fotografische Selbst- und Fremdbilder von Deutschen und Polen im Reichsgau Wartheland 1939-1945, Hamburg 2008.
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