Nora Mathys
Ein Fotopioneer kommt zu Ehren: Girault de Prangeys „Sujets suisses sans étiquettes“
Musée gruérien (Hg.): Miroirs d’argent. Daguerréotypes de Girault de Prangey, Bulle: Éditions Slatkine, 2008 – Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Musée gruérien in Bulle, mit Essays von Christophe Brandt, Sylvie Henguely, Christophe Dutoit und Christophe Mauron – 191 Seiten, 234 Abb. in Farbe, gebunden ohne Schutzumschlag – CHF 75 (plus Porto), Bestellung:http://www.musee-gruerien.ch/fr/museum/store.phpinfo(at)musee-gruerien.ch
Erschienen in: Fotogeschichte 113, 2009
Fotobestände durchlaufen manchmal einen abenteuerlichen Weg, bis sie in einer Sammlung zur Ruhe kommen: Von den nahe zu 1000 Daguerreotypien, die Joseph-Philibert Girault de Prangey (1804–1892) gemäß einem Verzeichnis zwischen 1840 und Mitte der 1850er Jahre realisiert hatte, sind heute 451 bekannt, wobei deren (Wieder-)Entdeckung und schrittweise Publikation in engem Zusammenhang mit der durch die digitale Wende ausgelösten erneuten Hinwendung zur Frühzeit der Fotografie steht. Die Schachtel Nummer 3, die im Inventar als „60 Schweizer Aufnahmen ohne Etikette“ aufgeführt ist, ist bereits 1950 vom Comte Charles de Simony, der 1920 den baufälligen Sitz von Girault de Prangey kaufte und dort zufällig 20 Holzschachteln mit Daguerreotypien auffand, dem Musée gruérien geschenkt worden. Diese Schachtel geriet jedoch während 50 Jahren in Vergessenheit bis sie im Jahr 2002 wieder aufgefunden wurde. In der Zwischenzeit ist Girault de Prangey von einem kaum bekannten Fotografen zu einem der bedeutenden Pionieren der Fotografie aufgestiegen und seine Aufnahme vom olympischen Jupiter-Tempel in Athen aus dem Jahr 1842 wurde für 1,23 Millionen Schweizer Franken verkauft.
Der ausgezeichnete Katalog zur Ausstellung „Miroir d’argent. Daguerréotypes de Girault de Prangey“ des Musée Gruérien in Bulle ist das Resultat eines neueren bewussten Umgangs mit Fotografie als Medium, der sich in der doppelten Unterstützung von Memoriav hinsichtlich der Konservierung der Daguerreotypien und von der Schweizerischen Fotokommission des Bundesamtes für Kultur für die notwendigen Recherchen zu den einzelnen Bildern und Girault de Prangey spiegelt. Dieses Engagement hat sich ausgezahlt, da nicht möglichst schnell diese eindrücklichen Aufnahmen als Sensation in einem prächtigen Katalog präsentiert wurden, sondern das Museum sich die Zeit genommen hat, sorgfältige Recherchen zu betreiben, um die Aufnahmen in ihre historischen als auch biografischen Kontext zu stellen. Der sorgfältige Katalog präsentiert nicht nur die 61 Daguerreotypien, die im hinteren Teil des Buches im Verhältnis 1:1 aufgeführt, soweit möglich, lokalisiert, datiert, identifiziert und kommentiert sind, sondern ebenso 22 Lithografien und Aquarelle sowie 36 weitere seiner Daguerreotypien, so dass er zu einem grundlegenden Nachschlagewerk zu Girault de Prangey geworden ist.[1]
Die Beiträge im Katalog nehmen sich nicht nur der Figur Girault de Prangeys und seines Werkes an, sondern diskutieren die Schweizer Daguerreotypien ebenso in konservatorischer Hinsicht. Zudem finden sich kurze Artikel zur Geschichte und Technik der Daguerreotypie und zu den Reproduktionstechniken der Zeit sowie eine informationsreiche Geschichte der Daguerreotypien von Girault de Prangey. Im Beitrag zur Figur von Girault de Prangey setzt Christophe Dutoit die fotografischen Aufnahmen mit dessen Studien und Engagement zur Architektur in Verbindung. So charakterisiert er den vermögenden Abkömmling der Seigneurs de Vitry Girault de Prangey als anerkannten Spezialisten für arabisch-islamische Architektur, engagierten Denkmalpfleger und guten Zeichner, der wie zahlreiche seiner Standesgenossen eine kleine Tour in Europa und darauf folgend eine große ins Heilige Land und nach Nordafrika unternahm. Auf diesen Reisen entwickelte er sein Interesse für die islamische Architektur, die er in zahlreichen Zeichnungen dokumentierte und studierte. Zugleich engagierte er sich für die antiken Überreste in seiner Region, begründete mit einigen Freunden die Société historique et archéologique de Langres und wurde 1836 Inspektor der Kulturgüter von Haute-Marne. In diesen Zusammenhängen bediente sich Girault de Prangey ab 1840 technisch äußerst versiert der Daguerreotypie nicht als Kunst, sondern als Mittel zur Dokumentation. Aquarelle, Daguerreotypien und Lithografien gewisser Ansichten aus der Grand Tour vergleichend arbeitet Dutoit einen engen Zusammenhang des heute modern anmutenden Blicks von Girault de Prangeys mit dessen wissenschaftlichen Interesse an der Architektur heraus und bezeichnet diesen wegen dessen „Frontalität gegenüber dem Objekt, den Variationen der Gesamtansichten, der dauernden Sorge um das Detail und dem Interesse am Bauwerk“ als „monumentalen Blick“(Übersetzung nm). Als weiteres Kennzeichen dessen Werks hebt Dutoit die dem Motiv angepassten Spezialformate in Form von Panoramen hervor. Dutoits Einschätzungen zuspitzend kann Girault de Prangey als Pioneer der wissenschaftlichen Fotografie bezeichnet werden.
Auf dieser Grundlage aufbauend nimmt die Fotohistorikerin Sylvie Henguely die Schweizer Aufnahmen in den Blick, identifiziert Aufnahmeort und -zeit und ordnet sie in die Fotogeschichte der Schweiz ein, wobei sie die Fotografien mit solchen von Schweizer Fotografen aber auch anderen Ausländern vergleicht, die mit einem touristischen Blick die Schweiz und insbesondere die Alpen bereisten. Insbesondere die zahlreichen zwischen 1846 und 1850 aufgenommenen Daguerreotypien von ländlichen und alpinen Architektur sind außerordentlich und bereichern das fotografische Erbe der Schweiz. Die Schweizer Aufnahmen unterscheiden sich in zweierlei Hinsicht von den anderen Daguerreotypien Girault de Prangeys: Atypisch ist zum einen das stets gleich bleibende Format, das darauf hindeutet, dass Girault de Prangey im Gegensatz zu seinen Touren in der Schweiz nur mit einer Kamera reiste. Zum anderen finden sich unter ihnen neue Sujets: so Aufnahmen von geologischen Formationen und unter den Städteansichten einige von zeitgenössischen Bauten im neogotischen Stil. Henguely wirft die Frage auf, ob Girault de Prangey für die Aufnahmen zur zeitgenössischen Architektur womöglich Auftraggeber hatte. Da die Daguerreotypien nicht publiziert worden sind und nur spärliche Hinweise zu seinen Schweizreisen vorhanden sind, müssen diese Frage sowie Zweck und Ziel der Reisen aber offen bleiben.
In konservatorischer Hinsicht sind die Schweizer Daguerreotypien insofern ein Spezialfall, als dass sie „nackt“ sind, das heißt ohne die übliche Aufbereitung mit Passepartout und Schutzglas. Christophe Brandt (Konservator für Fotografie) stellt die Frage, wie diese geschützt werden können, ohne dass ein falscher Eindruck von deren Aufbewahrung gegeben wird, da kein „ursprünglicher“ Zustand hergestellt werden kann. Er beantwortet sie dahingehend, dass er die Daguerreotypien mit einem Passepartout aus Museumskarton versah, der ähnlich zum damals üblichen goldigen Einfassband eine Gravur aufweist, damit „die Form und die Symbolik des 19. Jahrhunderts präsent sind, das Objekt aber entschieden zeitgenössisch ist“ (Übersetzung nm).
Der Katalog zeichnet sich durch eine vorbildliche Aufbereitung und Einbettung der Daguerreotypien ins Girault de Prangeys Werk und in die schweizerische Fotografiegeschichte aus, wobei er sowohl für ein breites Publikum als auch für Fachleute ergiebig ist.
[1] Zu Girault de Prangey als lokaler Denkmalpfleger, Zeichner und Maler sowie als Architekturhistoriker Philippe Quettier: Sur les traces de Girault de Prangey 1804–1892. Dessins – peintures, photographies, études historiques, Langres 1998 und zu seinen Daguerreotypien vor allem die beiden Kataloge von Christie’s: Important Daguerrotypes by Joseph-Philibert Girault de Prangey from the Archive of the Artist, London 2003 und Christie’s: Important Daguerrotypes by Joseph-Philibert Girault de Prangey from the Archive of the Artist Part II, London 2004.
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