Bernd Stiegler
Jan Tschichold: Revolutionen der Typographie
Jan Tschichold. Meister der Typographie. Sein Lebenswerk in Bildern, o.O.: Verlag Bernd Detsch – 32 x 22 cm, 351 S., 450 Abb. in Farbe, gebunden – 49,80 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 111, 2009
Wenn man den gewundenen Wegen der Typografie des 20. Jahrhunderts einen Namen geben sollte, so wäre es fraglos der von Jan Tschichold. Wie kein zweiter Typograf hat er die Irren und Wirren eines Jahrhunderts nicht nur begleitet, sondern sich in sehr unterschiedlicher Weise positioniert und seinen neuen Haltungen eine anschauliche Gestalt gegeben. Betrachtet man das Werk Tschicholds, so betrachtet man die Geschichte in Form von gestalteten visuellen Abbreviaturen. Die Gestaltungen von Texten und Bildern sagen dabei nicht selten mehr aus als die Inhalte der verwendeten Bilder und Texte vermöchten. Die Revolutionen der Typografie sind visuelle Merkzeichen der ästhetisch-politischen Zeitläufte.
Jan Tschicholds Weg in die Avantgarde und durch sie hindurch ist dabei geprägt von einer großen Geradlinigkeit bei gleichzeitiger permanenter Neuorientierung. Sein Werk durchläuft gleich mehrere Revolutionen, ohne dass es künstlerisch an Bedeutung verlieren würde. Die Zäsur stellt dabei die Kriegszeit dar, die für Tschichold in vieler Hinsicht das Ende seiner Illusionen markierte. Während er in den 1920er und 1930er Jahren fraglos der Typograf der Avantgarde war, seinen Namen als Zeichen seiner Begeisterung für die russische Revolution wählte und auch in vieler Hinsicht sich aktiv für den politischen Kampf engagierte, sagte er sich nach dem Krieg dezidiert von dieser politischen wie ästhetischen Revolution los und wandte sich in seiner Typografie wieder genau dem zu, was er vorher vehement abgelehnt hatte: einer der Tradition verpflichteten Gestaltung, die auf Mittelachsen setzte und die Geschichte miteinbezog. Tschicholds Selbstkritik an dieser konstruktivistisch-funktionalistischen Form der Gestaltung hatte dabei auch eine politische Dimension, da der übertriebene Funktionalismus seiner Ansicht nach mit zu den Totalitarismen des Nationalsozialismus und Stalinismus beigetragen hatte. Tschichold teilt dabei durchaus Einschätzungen, die sich etwa in Theodor W. Adornos und Max Horkheimers finsterer geschichtsphilosophischer "Dialektik der Aufklärung" finden. Und so nimmt es kaum Wunder, dass sich Tschichold nach dem Krieg neuen, ungleich traditionelleren Aufgaben widmete und dies in strikter wie polemischer Opposition zu anderen Gestaltern wie etwa dem auf strengen Funktionalismus bedachten Max Bill, dessen Werk gerade in einer großen Ausstellung gezeigt wird, anging: die bekannteste war etwa die Neukonzeption der "Penguin Books" Buchreihe. Der Kampf für die serifenlose Schrift wurde zugunsten eines typografischen Humanismus aufgegeben, der auch die Geschichte der Typografie als Quelle der Gestaltung nutzen sollte. Tschichold entwarf mit der "Sabon" eine eigene Schrift, die in vielem der "Grotesk" entgegengesetzt ist, die seiner Einschätzung in revolutionären Zeiten zufolge die einzige zeitgemäße Schrift sei. Denn zwei Jahrzehnte vorher hatte er noch diversen Meilensteinen der ästhetischen Avantgarde ihre Gestaltung gegeben, Kinoplakate berühmter Filme von Buster Keaton bis Eisenstein und Vertov sowie Bücher der "Büchergilde Gutenberg" entworfen und mit vielen Protagonisten der Avantgarde, wie etwa Moholy-Nagy oder Graeff zusammengearbeitet. Moholys eigene theoretische Skizze zum Typofoto, die sich nicht zuletzt in der berühmten Programmschrift "Malerei Fotografie Film" findet, verdankt Tschichold entscheidende Anregungen und wäre ohne das von ihm herausgegebene Heft elementare typographie, das 1925 als Sonderausgabe der Typographischen Mitteilungen erschien und für das er Künstler von El Lissitzky bis Schwitters gewinnen konnte, wohl undenkbar gewesen.
Tschichold ist fraglos der wichtigste Theoretiker der typografischen Avantgarde in Europa. Und dabei gelang es ihm dank seines organisatorischen Geschicks auch, verschiedene Gruppen zu bilden und die proklamierte visuelle Revolution höchst effektiv international umzusetzen. Von Willi Baumeister, Friedrich Vordemberge-Gildewart über Piet Zwart und Paul Schuitema bis hin zu El Lissitzky, Paul Renner und Kurt Schwitters reicht dabei die eindrucksvolle Namensliste. Jan Tschichold war der Wortführer der "Neuen Typografie", dem Pendant des "Neuen Sehens" in der Fotografie, mit dem es seinen revolutionären Ton wie Stil teilt. In seinen Büchern "Die neue Typographie" oder "Eine Stunde Druckgestaltung" findet die typografische Revolution der Avantgarde ihre Theorie und zugleich ihre praktische Umsetzung, da Tschichold mit zahlreichen Beispielen arbeitet und in höchst anschaulicher Weise demonstriert, was geschieht, wenn man die Texte und Bilder in eine neue Bildschrift überführt. Hier wie dort geht es um eine Revolution der Sichtweise, die eine Revolution der Denkungsweise zielt. Die Fotografie spielt dabei von Anfang eine wichtige Rolle und wird bei ihm erstmals konsequent als Mittel der typografischen Gestaltung eingesetzt.
Auch in der Geschichte der Fotografie hat Tschichold einige Meilensteine hinterlassen – und wer könnte das schon von sich behaupten" Nicht nur ist er Mitherausgeber des heute sehr gesuchten Bandes foto-auge, den er zusammen mit Franz Roh im Anschluss an die legendäre FiFo-Ausstellung konzipierte, sondern auch Gestalter der leider nach wenigen Nummern eingestellten Reihe fototek, in der aber immerhin u.a. ein Band mit 60 Fotos von Moholy-Nagy und eine kleine Monografie zu Aenne Biermann erschienen sind.
Wenn man die jüngst erschienene umfangreiche Werkdarstellung studiert, so liest sich die Liste der Künstler, mit denen Tschichold zusammenarbeitete, wie ein Who"s who der Avantgarde: in nahezu allen wichtigen Zeitschriften finden sich seine publizistischen wie gestalterischen Spuren und nahe zu alle bedeutenden Fotografen kreuzten seinen Weg.
Seine Schriften sind in einer zweibändigen Ausgabe bereits vor einigen Jahren bei Brinkmann und Bose wieder ediert worden. Nun wird dieses vielleicht bedeutendste, sicher aber aufschlussreichste Werk der Typographie der Gegenwart endlich in einem opulent ausgestatteten Bildband vorgestellt, der kenntnisreich wie anschaulich den Leser durch die Revolutionen der Typographie leitet und auf diesem Weg in wunderbarer Weise die Geschichte eines Jahrhunderts als gestaltete Form präsentiert. Es ist eine Werkschau, die mehr ist: sie ist eine Schau der Welt des Neuen Sehens und der ästhetischen Revolutionen, die einem Jahrhundert nicht nur ihre Gestalt, sondern auch ihre Gestaltung gegeben haben.
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