Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Ulrike Matzer

Kompendium an Fotografiegeschichten

John Hannavy (Hg.) – Encyclopedia of Nineteenth-Century Photography, New York: Routledge, 2007 – 28,7 x 22,2 cm, 1.264 Seiten, 197 Abb. in S/W, gebunden – $ 540,00

Erschienen in: Fotogeschichte 107, 2008

Was Enzyklopädien leisten sollen, kommt einer Quadratur des Kreises gleich: eine "in sich verbundene Gesamtheit von Lehrgegenständen"[1] bieten (griech. enkyklios paideía), also umfassenden Überblick, dabei aber gewisse Koordinaten legen, die tiefer in spezielle Wissensgebiete führen. Dass der Universalitätsanspruch vielleicht noch zu Diderots und d'Alemberts Zeiten gelten mochte, heute aber nicht einmal mehr in Teilbereichen eingelöst werden kann, ist klar, und verständlich ist auch, dass ein notwendig zu einem bestimmten Termin abgeschlossenes Buchprojekt den Makel des Unabgeschlossenen in sich trägt. Wenn ein Nachschlagewerk der Art schon nicht Unmögliches möglich machen kann, so kann es doch erste und wesentliche Hilfe sein, mag es Thesen stützen, fragmentarisches Wissen in einen Kontext betten und weitere Versorgung mit Literatur- und Querverweisen leisten.

Dass die vorliegende Publikation einzigartig sei, wie der Herausgeber in der Einleitung zu den beiden knapp 1.200 Einträge und fünf Kilogramm schweren Ziegeln (das Cover passend: backsteinfarben) postuliert, ist schwer von der Hand zu weisen: Ein auch nur annähernd vergleichbares Kompendium gab es bislang nicht.[2] Als Autor fachspezifischer, dabei durchaus breiteren Leserschaften zugedachter Bücher hatte sich Hannavy schon 1974 um den Reprint der von Bernard E. Jones 1911 edierten Encyclopedia of Photography bemüht.

Der Nutzwert eines Nachschlagewerks liegt wesentlich in seiner Strukturierung – und die ist in diesem Fall klug gemacht: Alphabetisch wie gleichzeitig Themen nach sortiert lassen sich je fast 600 Kurz- oder Langbeiträge finden. Die thematische Liste gliedert sich u.a. in nationale und regionale Übersichten, illustrierte vs. textbasierte Publikationen, Photographers, Inventors, Patrons, and Critics; Socienties, Groups, Institutions, and Exhibitions, unterschiedliche Prozesse, Techniken sowie noch mal und eigens: Themes.

 So eingeladen blättern wir hinein, lesen quer, schlagen stichprobenartig nach, aus nahe liegenden Gründen unter Eder, Joseph (sic) Maria – und ein "Maria und Josef!" möchte uns entfahren, wenn wir in dem zwei Spalten breiten Eintrag Sätze und Wörter der Art lesen: "He was the son of Karolina from the Borudzkis Polish. Eder was an. He studied natural science at Vienna University, and later at Technischen Hochschule. [...] About 1879 he was worked together with G. Pizzighelli on activity of chlorosilver gelatine [...] Eder and Schneider sensistometr, Optical sensynsybilation, method to define panchromatic Eder and Hecht. [...] Since 1900, he had been delivering lectures on the development of the photography in «Vereins zur Vorbereitung naturwissenschaften Kenntnise» in Vienna." Selbst in Unkenntnis der Materie würde wohl ein jeder und eine jede stutzen und gegen die Seriosität des Gedruckten Zweifel hegen. Wie durch Übersetzungsmaschinen gejagte oder ebay-Prosa ähnelnde Passagen finden sich leider immer wieder (wobei der Eder-Eintrag wohl negativer wie amüsanter Spitzenreiter ist), und leider gibt es kaum eine zur Gänze von Schreib- und Satzfehlern freie Seite. Sogar in der Kopfzeile und bei Bildunterschriften springt einem entgegen, was sich der von Hannavy eingangs mehrfach in Anspruch genommenen "diligence" gegenüber so konträr ausnimmt: die Bände sind lausig redigiert; wie immer häufiger in jüngster Zeit – selbst im Bereich der Belletristik – wurde beim Lektorat gespart, eine Endkorrektur gab es ganz offensichtlich nicht. Dass die Autorinnen und Autoren ihre Beiträge nicht gegenlesen konnten, ist anzunehmen – und bei einem derart ausufernden Unterfangen auch verständlich. Vielleicht ist manche Auslassung auch auf den editorischen Wechsel rückzuführen (anfänglich war Pamela Roberts zuständig). Zwar hätte eine sorgfältige textliche und grafische Korrektur sicher noch ein weiteres Jahr Arbeit und womöglich nicht vorhandene Mittel in Anspruch nehmen müssen, aber die Sache wäre es wert gewesen. Auf den Verlag, der schließlich auch das akkurat gemachte Periodikum History of Photography erscheinen lässt, wirft das kein gutes Licht. Und schließlich ist diese Halbherzigkeit für alle Autorinnen, Autoren und Advisors ärgerlich. Denn nicht wenige Artikel sind auf so profunde Weise recherchiert wie elegant geschrieben; Artikel zu Themen, zu denen bislang nicht wirklich viel an (Überblicks-)Literatur existiert, und die zur weiteren fotohistorischen Recherche und Beschäftigung anregen – was eine feine Aufsatzsammlung gibt, ein Kompendium kleiner Geschichten der Fotografie: Advertising Uses of Photography, Allegorical Photography, Animal and Zoological Photography, Anthropology, Education and Training in Photography, Frauds and Fakes, Geology, Humour, Landscape, Night Photography, Photography of Paintings, Photography in Art Conservation, Photohistorians, Self-Portraiture, Vernacular Photography – um nur ein paar der knapp hundert Essays aufzuzählen, die allein unter den erwähnten Themes zu finden sind; Beiträge, die so mondäne Fragen wie jene der Patente und der Copyrights behandeln, verschiedene Gebrauchsweisen der Fotografie; Beiträge auch, die sozioökonomische Bedingungen bei und hinter der Bildproduktion ins Zentrum rücken, wie jener über Women Photographers etwa.

Denn auch wenn die meisten Fotografiegeschichten die Rolle von Fotografinnen bestenfalls knapp erwähnen: Schon unter jenen, die sich mit sich frühen, ja: protofotografischen Techniken auseinandergesetzt hatten, waren Frauen. Für wohlhabende Damen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts war es nicht ungewöhnlich, über (populär-)wissenschaftliche Kenntnis zu verfügen und auf der Basis zu experimentieren – Elizabeth Fulhame publizierte schon 1794 in London eine chemische Abhandlung, die das Färben von Stoffen durch Gold- und Silbersalze unter Lichteinfluss beschrieb. Von der Botanikerin Anna Atkins, wie weiters zu erfahren ist, stammt das erste fotografisch illustrierte Buch, mit Fotogramm-Cyanotypien bestückt (1843-53). Als Teil bürgerlicher Klientel waren Frauen wesentliche Auftraggeberinnen, die Bedürfnisse nach Bildern mit artikulierten. Und so verdiente sich die eine oder andere Miniaturmalerin, ganz wie ihre männlichen Kollegen, ihren Unterhalt bald besser als (wandernde) Daguerreotypistin. Mancher Frau fiel durch den Tod des Gatten ein Studio zu, andere standen zeitlebens im Dienst und Schatten ihres Mannes, wie Constance Talbot. Nicht zu vergessen die Beschäftigung von Frauen hinter den Atelierkulissen: als Rezeptionistin, Retoucheurin oder Zuschneiderin von auf Karton kaschierten Bildern; sowie die Tausendschaften, die sich industriell um Kommoditäten für die fotografische Bildherstellung kümmerten. In künstlerischer Hinsicht profitierten Frauen sicherlich davon, dass das neue Medium akademisch nicht verankert war, diversen Restriktionen in der Ausbildung also enthoben. In höher gestellten Kreisen wurde Fotografie als Freizeitbeschäftigung wie Handarbeit gepflogen; die Motive spiegeln in erster Linie häusliche Sphären wider. Weibliche Mitglieder königlicher Familien förderten Fotografie durch Patronanzen, und Queen Victoria nahm nicht nur den Hype der Stereoskopie vorweg, sondern lancierte, indem sie dem Verkauf fotografierter königlicher Konterfeis zustimmte, einen Trend: Visit- und Kabinettkarten zu sammeln, die sich dann gemeinsam mit Porträts der eigenen Familie und dem Freundeskreis in Alben organisiert wieder fanden. – Dass der nahe liegende Eintrag Album fehlt, ist bedauerlich; ärgerlich wird es, wenn dieser Artikel über Women Photographers im Kontext der anderen Beiträge wie ein Quotentext daher kommt: Denn was bei Ottomar Anschütz etwa vorbildlich geschieht, die Berücksichtigung seiner nicht unproblematischen und späten Rezeptionsgeschichte, müssen wir in Bezug auf Eugène Atget missen: Dass nämlich vor allem dank der Bemühungen von Berenice Abbott sein "uvre überhaupt auf uns gekommen ist, dass sie sich Jahrzehnte lang um seine Nachlassenschaft bemühte, deren Verkauf ans MoMA, um eine Publikation, um Atgets Rezeption in den USA, in seiner Rolle als früher straight photographer – neben der Enigmatik, die Man Ray und die Surrealisten faszinierte: Solchem gegenüber sind manche Beitragende schlicht blind. (Im Essay über Criticism wird dies jedoch durchaus erwähnt).

Ähnliches geschieht mit den Illustrationen: Der explizit erhobene Anspruch, die meist ausgeblendeten Länder und Kontinente sowie kolonialistisch-hegemoniale Blicke ihrerseits in den Blick zu rücken, wird zwar von diversen Texten sehr wohl eingelöst; nur macht eben das Bildliche doch deutlich sichtbar, dass diese Enzyklopädie letztlich ziemlich angloamerikanisch, weiß und androzentrisch ausgerichtet und gewichtet ist. Und der Beitrag zu Albumen Prints macht schließlich ein weiteres Manko der Bände sichtbar: Was an charakteristischer Textur über die Abzüge geschrieben wird – "exceptionally fine detail and the longest tonal range of nineteenth century processes" ", führt die Bebilderung daneben ad absurdum: Gedruckt in selten grobem Raster und nicht selten ziemlich flau ist Bildlichkeit, sind grundverschiedene fotografische Modi und Materialitäten zur Indifferenz hin nivelliert: Daguerreotypien erscheinen kaum anders als Salzpapierabzüge oder eben Bilder auf Albuminpapier. Dazu sind die meisten Reproduktionen krud beschnitten, was jeglichen Eindruck des Objekthaften und des Verwendungs- bzw. Präsentationskontexts negiert: Die Illustration zum Beitrag über die carte-de-visite hat so ohne Untersatzkarton auszukommen, der doch häufig maßgebliche Auskünfte über das Bild enthält. Wenn selbst das noch mit Kostengründen argumentier- und also übersehbar wäre (mit einer Abbildung alle sechs Seiten ist das Werk ohnehin spärlich illustriert): Jahres-, Technik- und Maßangaben wurden unnötig und unverständlich eingespart, um dafür den Inhabern der Bildrechte umso mehr Raum zu geben: Wie wichtig es für die BenutzerInnen ist, um Angaben zu Schenkungen und Inventarnummern zu wissen, sei dahin gestellt; und dass die Reproduktionen von "many collections" zur Verfügung gestellt worden seien, wie Hannavy betont, stimmt nun wirklich nicht: Zu 96% stammen sie aus dem Metropolitan bzw. Getty Museum.

Bei aller Lust am Lästern: Fragen äußerer Form und diverser Auslassungen gegenüber stellt sich die Frage der Verhältnismäßigkeit – in Summe wird doch Unschätzbares an Inhalten und Überblicken transportiert. Auf originelle Einsprengsel wie Plüschow, Peter Weiermair Wilhelm (1852-1930), mehrfach und fett gedruckt, wird man zwar immer wieder stoßen; doch je mehr man sich von der Essenz etlicher Beiträge absorbieren lässt, desto eher wird man den Wert der Enzyklopädie zu schätzen wissen. Wenn auch tendenziell dem Kanon klassischer, zur Kunstfotografie hin ausgerichteter Fotogeschichtsschreibung verpflichtet, öffnet sich doch ein weites Feld. Die Widersprüche, die das Opus in sich birgt, mögen anregen zum Gegenlesen, zu Gegenthesen, zur weiteren Beschäftigung und Recherche. Als Nachschlagewerk für alle am 19. Jahrhundert interessierten (angehenden) Fotohistorikerinnen und-historiker wird es die nächsten Jahre, womöglich auch Jahrzehnte, unverzichtbar sein, und als Lesebuch in erster Linie, in dem sich ganz gut schmökern lässt – und von offen liegenden Desiderata profitieren: selbst daran arbeitend, darüber sinnend, wie sich welche Lücken und Kreise schließen ließen.


 

[2] 2005 erschien ebenfalls bei Routledge die dreibändige Encyclopedia of Twentieth-Century Photography, hg. von Lynne Warren.

 

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