Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Timm Starl

Überkommene und neue Ansichten in Graz

Hier ist es schön. Grazer Ansichtskarten. Aus den Sammlungen des stadtmuseumgraz, hg. von Margareth Otti und Otto Hochreiter, mit Beiträgen von Anton Holzer und Eva Tropper – Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Stadtmuseum Graz, 5. Oktober 2007 bis 6. April 2008 – Salzburg: Fotohof edition, 2007 – 22 x 17 cm, 100 Seiten, 60 farbige Abb., broschiert, 9,80 Euro in der Ausstellung, – 14,80 Euro im Buchhandel.

Erschienen in: Fotogeschichte 107, 2008

Im Planetensaal des Schlosses Eggenburg findet der Eröffnungsvortrag statt, der steirische Landeshauptmann lädt zum Empfang, eine Tagung beginnt. Die barocke Umgebung, der auf den Kosmos weisende Name des Raumes und die hohe Stellung des Politikers verschaffen dem Thema einen so imposanten wie noblen Rahmen: Es geht um das Universalmuseum. Die Fortsetzung findet am folgenden Tag und in der nüchternen Umgebung des Kunsthauses Graz statt. Der Ortswechsel scheint symptomatisch für die Richtung, die von den meisten Referenten eingeschlagen wird: Sie blicken mehr oder weniger gebannt auf die Befindlichkeit einer Institution, die sich als eine Ansammlung mehrerer Fachmuseen unter einem Dach ausnimmt und unter Publikumsschwund leidet. Nur eine Stimme skizziert Muster für die Zukunft und rät dazu, die eigenen Kollektionen einer Überprüfung zu unterziehen, neu zu betrachten, in anderen Formationen zu ordnen und nicht zuletzt ihre bisherige Präsentation in Ausstellungen und Veröffentlichungen zu überdenken. Am letzten Tag treten allerdings die Direktoren von drei großen österreichischen Museen auf, die zuvorderst auf sich und ihre Häuser weisen, deren gloriose Vergangenheit beschwören und den derzeitigen Status unter ihrer Leitung in blumigen Worten beschreiben.

Mehr profitiert als vom Gros der Vorträge hätten die Zuhörer von einem Besuch im Stadtmuseum Graz. Bei diesem handelt es sich zwar nicht um ein Universalmuseum, mit seiner vielfältigen Ausrichtung besteht der Unterschied jedoch lediglich im Fehlen naturwissenschaftlicher Sammlungen. Just zum Beginn der Tagung wurde eine Ausstellung eröffnet, die in mehrfacher Hinsicht anderen Museen zum Vorbild dienen kann. Unter den vorhandenen Beständen, die man in den beiden letzten Jahren – beginnend mit der neuen Leitung des Hauses durch Otto Hochreiter – gesichtet und vielfach erstmals verzeichnet hat, wurde ein Konvolut ausgemacht, das bislang kaum Beachtung erfahren hatte, zumal auch die enthaltenen Stücke seit 1928 mehr angehäuft als gesammelt worden sind. Ihnen wurde jedoch nicht nur archivalische Aufmerksamkeit zuteil, sondern man begegnete ihnen mit anders gearteten Fragestellungen und suchte nach entsprechenden Formen, um die Objekte adäquat zu vorzuführen.

Die Rede ist von Ansichtskarten. Damit werden Bildpostkarten mit topografischen Motiven bezeichnet, die seit den 1870er Jahren hergestellt und seit etwa 1900 zumeist fotografisch illustriert werden. Die Aufnahmen liefern ortsansässige oder reisende Fotografen, die ohne besonderen künstlerischen Anspruch ans Werk gehen. Die Ergebnisse verlegen sie selbst oder geben sie häufiger an Postkartenverlage, von denen sie in einem standardisierten Format und diversen Drucktechniken vervielfältigt werden. Dann gehen die Karten oft weite Wege und durch viele Hände: vom Ständer einer Verkaufsstelle an einen Touristen, weiter über Postbeamte und den Briefträger an den Adressaten, der sie der Familie und möglicherweise Freunden zeigt und schließlich gemeinsam mit den privaten Bildern und Alben aufbewahrt; später mag es vorkommen, dass die Erben die Stücke an einen Trödler geben, bei dem sie über kurz oder lang ein Sammler findet, der sie seinen Schätzen einverleibt. Diesen interessiert – wenn nicht die philatelistische Rarität im Vordergrund steht – gewöhnlich das Motiv auf der Bildseite, wogegen die Motive, die den Absender zu einer Mitteilung veranlasst haben, selten Beachtung finden.

Häufig sind es Grüße, mit denen bekundet wird, dass man sich dort und dort befindet und wohlauf ist, welcher Tatsache in unsicheren Zeiten und nach gefährlichen Touren einige Bedeutung zukommt. Oftmals will der Absender den Platz auf der Anschriftenseite möglichst vollständig nutzen und schreibt vom schönen oder miserablen Wetter oder verweist auf das Haus, in dem man wohnt und das er auf dem Foto angekreuzt hat. Dass der Versand einer Nachricht immer auch an die Trennung von zuhause und von geliebten Menschen erinnert, führt zu Beteuerungen der Zuneigung und der herbeigesehnten Rückkehr. All diese Botschaften geschehen in Kurzform, und manchmal wird zu Abkürzungen gegriffen, um viele Worte unterzubringen – dann steht lb. für liebe und herzl. für herzlich. Immer aber handelt es sich um einseitige Äußerungen, Monologe, gerichtet an eine bekannte Person und in eine unbekannte Zukunft. Selbst wenn die Karten bis Anfang des 20. Jahrhunderts "Correspondenz-Karten" hießen, wurde von den Absendern in der Regel keine Antwort erwartet.

Manch einer schreibt auch, dass es an seinem Aufenthaltsort ein wenig anders aussehe, als es das Bild zeige. Das kann daran liegen, dass manche Verlage gerne über Jahre hinweg auf dieselbe Aufnahme zurückgreifen. Vor allem aber steht hinter allen Bildentwürfen die Absicht, eine Welt zu zeigen, wie sie gewünscht wird, und nicht, wie sie ist. Dies gelingt, indem bei gutem Wetter fotografiert wird, die Sehenswürdigkeiten von ihrer besten Seite gezeigt werden und keinesfalls schäbige Häuserfronten, verschmutzte Plätze oder Schottergruben inmitten der Waldlandschaft ins Bild geraten. So wird eine Wirklichkeit zubereitet und eine neue geschaffen, oder anders ausgedrückt: Die "Bilder stellen Idyllen nicht nur dar, sondern auch her." Die prägnante Formulierung stammt von Thomas Trummer, der 2003 eine "kleine Phänomenologie der Ansichtskarte" vorgelegt hat, die anlässlich der 4. Österreichischen Triennale zur Fotografie in Graz veröffentlicht wurde (Werner Fenz [Hrsg.], Sight.Seeing , Salzburg: Fotohof edition, S. 48-63) und zudem mit Grazer Ansichtskarten illustriert ist.

Im selben Verlag ist auch der Katalog zur Ausstellung erschienen, zu der meine weit ausholenden Bemerkungen führen sollen. Wie auch Trummer hielten die Kuratorinnen Margareth Otti und Eva Tropper beide Seiten der Ansichtskarten kulturgeschichtlich für bedeutsam. Aus dem Fundus des Museums haben sie 1.214 Exemplare ausgewählt und so präsentiert, dass Bild- und Textseiten gleichermaßen zur Ansicht gelangen. Dazu wurden die Karten in senkrecht angeordneten Bahnen aus Klarsichtfolien geschweißt und diese am Plafond befestigt. So kann sich der Besucher jeweils aufeinander folgend Vorder- und Rückseite widmen oder einen Parcours einschlagen und zunächst die Bilder nacheinander betrachten, bevor er sich den Texten zuwendet.

Das Material – die älteste Karte stammt von 1897, die jüngsten Belege aus dem vergangenen Jahrzehnt – wurde nach unterschiedlichen Kategorien geordnet und nahezu ohne textliche Begleitung in drei Räumen dargeboten. Da sind zunächst in einem äußeren Kreis die Blicke auf Graz und in einem inneren jene von Graz aus auf die Umgebung arrangiert. Es zeigt sich neben anderem, dass in den diversen Zeitabschnitten manche Blickrichtungen bevorzugt und andere nach und nach aufgegeben worden sind. Wie auch in einer weiteren Anordnung, bei der eine alphabetische Reihung nach Straßennamen vorgenommen worden ist, die Straßenfluchten in den bürgerlichen Vierteln mit ihren klassizistischen Bauten des ausgehenden 19. Jahrhunderts sukzessive an Attraktivität verloren haben zugunsten von einzelnen neu errichteten Gebäuden. Zugleich lösen Motive im Zentrum der Stadt jene in peripher gelegenen Gebieten zunehmend ab. In einem weiteren Raum sind etwas mehr als 400 Ansichten des Grazer Uhrturms nach dem Zeitpunkt der Kartenherstellung gereiht. Die über ein Jahrhundert reichende Zusammenstellung von Aufnahmen des Grazer Wahrzeichens vereinigt schwarzweiße, kolorierte und farbige Wiedergaben und macht augenscheinlich, wie das Bauwerk einmal als isolierte Erscheinung und nur über die Bildlegende mit Graz verbunden, dann wieder als Krönung der unter ihm liegenden Stadt wahrgenommen worden ist.

Mit der Vorführung nach unterschiedlichen Gesichtspunkten eröffnen sich die differenten Anschauungen der Fotografen und Verlage einerseits und die Gebrauchsweisen der Reisenden und Sammler andererseits. Verfolgt werden können zugleich die Abkehr von den panoramatischen Sichtweisen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend verlieren, und die Fokussierung auf einzelne städtische Besonderheiten. Die politische Geschichte der Stadt manifestiert sich in den Transparenten und beflaggten Häusern wie auch in der wechselnden Namensgebung der Straßen und öffentlicher Gebäude. Offenkundig wird zudem die Reglementierung der Bewohner im Zuge von Umbauten infolge des zunehmenden Verkehrsaufkommens. Gegen die verordneten Blicke der Postkartenverlage opponieren gelegentlich die Käufer der Karten, wenn sie von ihren Eindrücken beim Gang durch die Stadt berichten und diesen die abgebildeten Ausschnitte kritisch gegenüberstellen.

Den Ausstellungsmachern ist ebenso gelungen, eine ansonsten schwer zugängliche Zahl von Bildern mit mehrfach ähnlichen Motiven eingängig zu inszenieren, wie dem Massenmedium Ansichtskarte eine Reihe neuer Erkenntnisse zu ihren historischen, sozialen und ästhetischen Dimensionen abzugewinnen. Es zeigt sich, dass auch eine von der Kunst- und Fotogeschichte als gering geachtete Spezies durchaus wertvolle Beiträge zur Vergangenheit zu liefern vermag, wenn sie entsprechend befragt wird. Und sie lässt sich in einer Ausstellung auf eine Weise darbieten, dass die Besucher nicht von einem Exponat zum anderen geführt werden, sondern eigene Erkundungen anstellen und als autonome Partner des Museums auftreten können.

Nur wenn ein Ausgleich zwischen der ehrwürdigen Bildungsinstitution und einer modernen Unterhaltungsstätte stattfindet und das Schielen auf Besucherfrequenz und Eintrittserlösen aufgegeben wird, können die Museen – und erst recht jene mit universalem Anspruch – neuen Zuspruch erwarten. Eine der entscheidenden Veränderungen wird darin liegen – wie auch im Vortrag von Michael Fehr innerhalb der eingangs erwähnten Tagung angedeutet – , dass das Museum in ein dialogisches Verhältnis zu seinem Publikum tritt, das nicht bloß konsumieren soll, sondern mit anders ausgewähltem und aufbereitetem Material als bislang zu konfrontieren ist, das eigene Initiativen unterstützt und zu selbständigen Nachforschungen anregt. Im Stadtmuseum Graz hat man erste viel versprechende Schritte unternommen.

 

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