Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Matthias Christen

Artisten, Freaks und Clowns

Bruce Davidson: Circus – Göttingen: Steidl Verlag, 2007 – 29,5 cm x 30,2 cm, 104 Seiten, 86 Abb. in S/W (Triton), gebunden – 50 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte 107, 2008

Die exterritoriale Welt des Zirkus mit ihrer überbordenden Fülle an Schauwerten ist für die Fotografie des 20. Jahrhunderts ein genauso ergiebiges Sujet, wie sie es bereits im 19. für die Literatur und die bildenden Künste gewesen ist. Die ersten Zirkusfotos tauchen schon kurz nach der Mitte des vorletzten Jahrhunderts auf. In den meisten Fällen stammen sie allerdings nicht aus dem Zirkus selbst, sondern aus den Ateliers professioneller Fotografen, wo Artisten und Clowns sich voll kostümiert mit ihren Requisiten zu Werbezwecken haben ablichten lassen. Saltarinos Artisten-Lexicon von 1895 (Düsseldorf: Verlag Ed. Lintz; Repr. Offenbach am Main: Hubers magisches Repositorium, 1984), in dessen Anhang eigens auf das Zirkus- und Varietégeschäft spezialisierte "Artisten-Photographen" ihre Dienste anbieten, enthält eine umfangreiche Sammlung solcher Werbekarten. Die eigentlichen Manegenvorführungen finden dagegen erst zur Jahrhundertwende Eingang ins fotografische Repertoire, nachdem handlichere Kameras und empfindlichere Filme die technischen Voraussetzungen dafür geschaffen haben. Während das Verhältnis zwischen dem stillen, unbewegten Bild und der unbändigen kinetischen Energie der Manegenperformance trotz der Fortschritte auf dem Gebiet der Bewegungsfotografie gespannt bleibt, hat sich das Porträt zu einem der ästhetisch produktivsten Genres der Zirkusfotografie entwickelt. Die Liste der namhaften Porträtisten, die sich im Lauf des 20. Jahrhunderts von der eigentümlichen Körperlichkeit und den Physiognomien der gesellschaftlich marginalisierten Artisten, Freaks und Clowns haben faszinieren lassen, reicht von August Sander über Diane Arbus bis hin zu Mary Ellen Mark (s. Indian Circus, San Francisco: Chronicle Books, 1993).

Die drei Zirkusserien des New Yorker Magnum-Fotografen Bruce Davidson, die fast ein halbes Jahrhundert nach ihrem Entstehen nun erstmals in Buchform erschienen sind, bewegen sich zwischen den Genres Porträt und Reportage. Die erste und zugleich umfangreichste Arbeit aus dem Jahr 1958 zeigt den Zirkus als eine ungebrochen lebendige Institution der Unterhaltungskultur. Die fotografische Ikonografie der großen amerikanischen "tenting shows", die Edward J. Kelty in den 20er und 30er Jahren mit seinen Aufnahmen maßgeblich geprägt hat (Miles Barth, Alan Siegel, eds., Step Right This Way: The Photographs of Edward J. Kelty, New York: Barnes & Noble Books 2002), ist in Davidsons frühen Bildern weitgehend intakt; noch gibt es die imposanten Zeltbauten, die vollen Zuschauerränge und die spektakulären Manegendarbietungen. Ellen Handy, die Autorin eines der wenigen Texte, die es zur Zirkusfotografie bislang gibt, sieht in Davidsons Aufnahmen eine "enormously powerful demystification of the circus" (s. "Photographing "The Splendidest Sight that Ever Was", in: Donna Gustafson, ed., Images From the World Between: The Circus in 20th Century American Art, Cambridge/Mass.: The MIT Press, 2001, 105). Sie liegt mit dieser Deutung allerdings nicht richtig. Davidson arbeitet mit einer Technik der visuellen Privilegierung. Über die Attraktionen der Manegenprogramms hinaus eröffnet er den Betrachtern einen Einblick in den sogenannten back yard, den Bereich des Zirkus, der dem Publikum normalerweise verschlossen bleibt: die Garderoben, Wohnwagen und das Privatleben der Akteure.

Bei der Erkundung des abseitigen Milieus hält sich Davidson an zwei gegensätzliche Erscheinungen aus dem zirkuseigenen Repertoire: einen zwergwüchsigen Clown und die riesenhaften Elefanten. Statt den Zirkus zu demystifizieren, lässt ihn der fotografische Blick hinter die Kulissen so als eine Welt der Extreme erscheinen, deren Anziehungskraft darauf beruht, dass die im Alltag selbstverständlich geltenden Maßstäbe und Normen außer Kraft gesetzt sind. Eines der eindrücklichsten Bilder der Serie, das viel über die Faszinationsgeschichte des Zirkus im bürgerlichen Zeitalter erzählt, zeigt den Liliputanerclown Jimmy Armstrong in einem Restaurant allein vor einem schon etwas verwelkten Blumenstrauß sitzen, während eine Gruppe "normaler" Gäste ihn mit kaum verhohlener Neugier vom Nebentisch aus betrachtet. Selbst in der scheinbar alltäglichen Situation eines Besuchs im Restaurant spielt der Mechanismus von Anziehung und sozialer Exklusion, der das Interesse der Zuschauer am Zirkus und seinem randständigen Personal trägt.

Davidsons zweite Serie ist eine Auftragsarbeit für die Zeitschrift Show und nur wenige Jahre jünger als die erste. Gegenüber den 50er Jahren hat der Zirkus in den USA allerdings einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen. Die großen Unternehmen haben in der Zwischenzeit vielfach den traditionellen Zeltbetrieb aufgegeben und treten stattdessen in angemieteten Mehrzweckhallen auf. In Davidsons Bildern vom Gastspiel, das Ringling Brothers and Barnum and Bailey 1965 in den J.S. Dorton Coliseums in North Carolina geben, sind die gängigen Zuordnungen ins Gegenteil verkehrt. Es ist nicht mehr der Zirkus, der fremd wirkt, sondern die leblose Architektur des modernen Zweckbaus, in denen die Artisten und Tiere sich verlieren und unwillkürlich zum Gegenstand einer nostalgischen Erinnerung werden. Die Welt des Zirkus zeigt hier im Großen genauso Risse im sinnigen Detail das Trikot der Trapezartistin, die sich in einer abweisenden Betonhalle alleine für ihren Auftritt vorbereitet.

Mit der dritten Serie nimmt das Buch einen eher versöhnlichen Ausgang. Die letzten Aufnahmen gehen auf eine weitere Zeitschriftenpublikation zurück, für die Davidson 1965 den irischen Familienbetrieb James Duffy and Sons fotografierte. In Europa, wo die historischen Wurzeln des Zirkus liegen, findet Davidson wieder, was während fast zweier Jahrhunderte dessen besonderen Reiz ausmachte: die Verbindung von Mensch und Tier in einem sinnlich überwältigenden Spektakel, die Nähe, die Manege, Tribüne und Zelt zwischen Performern und Zuschauern schaffen, und der geschlossene, quasi-familiäre Kosmos, in dem Leben und Arbeit in einer vormodernen Einheit zusammenfallen.

Auf Grund der unterschiedlichen Anlässe, zu denen die einzelnen Serien entstanden sind, wirkt Circus nicht ganz so geschlossen wie Davidsons andere Arbeiten, die vor einiger Zeit neu aufgelegt worden sind: Brooklyn Gang (Santa Fe: Twin Palms, 1998), East 100th Street (Los Angeles: St. Ann"s Press, 2003) oder Subway (Los Angeles: St. Ann"s Press, 2003). Das elegante Design und die opulente Ausstattung des Bandes machen dies jedoch vergessen. Zudem liefert das Buch ein wichtiges Stück Zirkusgeschichte und macht den Umbruch sinnlich greifbar, den die traditionsreiche Institution der Unterhaltungskultur Mitte des letzten Jahrhunderts erfahren hat.

 

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