Lars Blunck
Im Theater inszenierter Fotografie
Fritz Franz Vogel: The Cindy Shermans: inszenierte Identitäten. Fotogeschichten von 1840 bis 2005 – Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2006 – 516 Seiten, mit über 950 Abb. in Farbe und S/W, 22 x 24 cm, broschiert – 49,90 Euro
Erschienen in: Fotogeschichte 107, 2008
Wer sich für Aspekte der Fiktion, Narration und Inszenierung in beziehungsweise von Fotografien interessiert, der wird sich über die vorliegende, zumal großformatige, reich bebilderte und über 500 Seiten starke Publikation sicher freuen. Um es jedoch vorwegzunehmen: Es handelt sich weniger um einen großen Theorieentwurf zu den genannten Aspekten und auch nicht um die ultimative Geschichte der inszenierten respektive inszenierenden Fotografie. Vielmehr entpuppt sich das thematisch gegliederte, wie gesagt: geradezu ausufernd bebilderte Buch als ein heimliches Nachschlagewerk mit meist mehr-, maximal jedoch fünfseitigen Einträgen zu circa 70 inszenierend arbeitenden FotografInnen. Und wie sehr das Synoptische, gleichsam Lexikalische ein Anliegen dieses Buches ist, erweist sich spätestens an dessen Schluss, ist man bei der "Liste inszenierender Fotografinnen und Fotografen" (mit mehreren hundert Einträgen von "A" wir Mario Ambrosius bis "Z" wie Ton Zwerver) und einer ebenfalls einige hundert Titel umfassenden Bibliografie zum Thema angelangt. Doch der Reihe nach.
Jede wissenschaftliche Untersuchung steht allerspätestens bei der Publikation ihrer Ergebnisse vor der Notwendigkeit, ihre Existenz zu legitimieren. Fritz Franz Vogels Buch, das auf eine im Jahr 2005 an der Universität Zürich eingereichte Dissertation zurückgeht, kommt dieser Erfordernis mit kaum zu überbietender Verve nach. Das "Phänomen" der inszenierten Fotografie stelle ein fotohistorisches Desiderat dar: "Bisher wurde die Fotografie", daran will bereits der erste Satz des Buches keinen Zweifel lassen, "von Beginn weg als ein die Natur- und Kunstgeschichte spiegelndes, dokumentierendes, transkribierendes, resp. reprografierendes (Forschungs)instrument gewertet, kaum aber als ein schöpferisch-konstruierendes." Und Fotografien, die sich der Stilmittel des Theaters und des Dramatischen bedienten, seien "bisher kaum untersucht, geschweige denn als eigenes Genre erfasst worden." (9) Inszenierte Fotografie als "Marginalie" (14) der Fotogeschichtsschreibung – ganz abgesehen davon, dass diese Zuspitzung eines angeblichen Forschungs(not)standes ebenso unzutreffend wie unnötig ist, widerspricht sie Vogels eigener Bibliografie, die so einschlägige Publikationen aufführt wie die beiden Themenbände zur inszenierten Fotografie des Kunstforum International aus dem Jahr 1986, Anne Hoys Fabrications. Staged, Altered, and Appropriated Photographs (1987), Michael Köhlers Das konstruierte Bild. Fotografie – arrangiert und inszeniert (1989) oder Christine Walters Bilder erzählen! Positionen inszenierter Fotografie (2002). Gewiss, man durfte mit dem Forschungsstand zu dem, was landläufig als inszenierte oder inszenierende Fotografie bezeichnet wird, bislang kaum zufrieden sein. Dennoch aber beschädigt es das Unternehmen Vogels, wenn er die Vorleistungen anderer derart vom Flickenteppich der Forschung fegt. Letztlich ist darin eine Alleinstellungsstrategie zu vermuten, die im so genannten "Proszenium: Einführung, Forschungsstand, Leitgedanken" kulminiert, wenn der Autor schreibt: "Mit dem Inszenierungsanteil in der Fotografie beschäftigte sich meines Wissens kaum jemand eingehend [...]." (12). Das ist unwahr, denn der Autor weiß es ganz offenkundig besser!
Was Vogel eigentlich meint, ist das Fehlen einer synoptischen, um nicht zu sagen: enzyklopädischen Studie zum Thema. Entsprechend geht es ihm selbst darum, das Phänomen der inszenierenden Fotografie, "in seiner Geschichte auf[zu]zeigen". Mithin ist es das selbst erklärte Ziel des Autors, die "mittels des fotografischen Apparats hergestellten Bilderzählungen, Entwürfe und Vorstellungen wirklicher oder möglicher Realitäten als Teil einer wissenschaftlichen Narrativik auszuarbeiten und die (künstlerischen) Konzepte und fotospezifischen Strategien zu diskutieren". (10) Was immer sich auch hinter dem ersten Teil der Zielsetzung verbirgt (Ausarbeitung von Bilderzählungen als Teil einer wissenschaftlichen Narrativik") – den zweiten Teil, nämlich die Diskussion, zumindest die Auffächerung der künstlerischen Konzepte und fotospezifischen Strategien, löst Vogel vollumfänglich ein und legt damit markante Grundsteine für weitere Forschungen. Um den selbst gestellten Anspruch, "eine Geschichte der inszenierten, narrativen Fotografie zu verfassen, die fotografische Erzählstrukturen herausarbeitet und diese symbolischen Erfindungen im historischen und aktuellen Kontext diskutiert" (11), macht sich dieses Buch also durchaus verdient. Kurzum: Es wird wohl auf Jahre das Nachschlagewerk zu Positionen inszenierter Fotografie darstellen. Dennoch liefert das Buch Anlass zur Kritik. Was zum Beispiel meint "inszenierte Fotografie" eigentlich"
Nimmt man den Titel "The Cindy Shermans" wörtlich (und damit ernst), muss Sherman dem Autor als eine Art Modellfall einer spezifischen Weise des Fotografierens gelten. Das nähere Verständnis dieser spezifischen Weise wird aber gerade nicht – und dies mit guten Gründen! – von Sherman hergeleitet. Vielmehr dient deren Name als Etikett, als eine Art Synonym, unter dem sich spezifische fotografische Phänomene fassen lassen. Geradezu paradox indes mutet es an, dass der Autor selbst beklagt, jede fotografische Selbstinszenierung müsse sich mittlerweile "unfairerweise" (304) an Sherman messen lassen. Warum dann aber dieser Titel" Wie auch immer – es stellt sich die viel entscheidendere Frage, was das Spezifische und damit Gemeinsame der zur Diskussion stehenden fotografischen Phänomene ist. Am ehesten sollte man sich Klarheit über diese Frage von einer Begriffsdiskussion erhoffen, die Vogel denn auch in seinem "Souffleurkasten: Die Verortung der Begriffe" angeht, nicht allerdings ohne dem Leser sogleich zu versichern, dass er nicht gewillt sei, sich in das Prokrustesbett aporetischer Definitionen zu legen; vielmehr wolle er sich "um die Klippen neuerer Definitionen herumschiffen, was denn inszenierte Fotografien technisch und semiologisch seien". (19) Vogel benennt hierfür Gründe: "Technisch entspricht die inszenierte Fotografie dem Index (weil es sich bei der Bilderzeugung um einen rein photochemischen Prozess handelt), inhaltlich jedoch dem Ikon (weil hier ästhetische Normen erzeugt und reflektiert werden)." (19) Warum aber der Autor die ja durchaus zutreffende Beobachtung dieser Diskrepanz zwischen Indexikalität und Fiktionalität nicht zum Anlass nimmt, endlich einmal eine tiefenscharfe Differenzierung der Begriffe "inszenierte Fotografie", "narrative Fotografie" und "fiktionale Fotografie" vor dem Hintergrund der technischen Verfasstheit von Fotografie zu entwickeln, bleibt unergründlich. Hier wurde eine Chance verpasst, endlich eine terminologisch tragfähige Basis für die zukünftige Diskussion zu legen – und das Terrain der eigenen Untersuchung präzise abzustecken. Stattdessen verschafft sich Vogel auf den zwei (!) Seiten seiner Erörterung zu den Begrifflichkeiten von "Fotografische Inszenierung / inszenierte und inszenierende Fotografie" einen Arbeitsbegriff, wie er weiter kaum gefasst sein könnte: "Die reine inszenierte Fotografie selber, und so wird der Begriff in dieser Arbeit verstanden, geht von einem faktischen Leerraum aus, in dem die Idee des Künstlers, des Regisseurs, des Autors umgesetzt wird." (30) Dieses weite Begriffsverständnis birgt freilich einen Vorteil, lassen sich im weiteren Verlauf des Buches darunter doch die vielfältigsten Inszenierungsstrategien subsumieren; der Nachteil besteht gleichwohl darin, bisherige terminologische Unschärfen zu tradieren. Dies geht so weit, dass die Begriffe "inszeniert" und "narrativ" von Vogel immer wieder synonym gebraucht werden, wenngleich sie nicht nur der begrifflichen Schärfe wegen unterschiedlich verwendet werden sollten. So kann ein Foto zwar narrativ (im Sinne von erzählend) sein, ohne deshalb aber bereits inszeniert sein zu müssen; auch im nicht-inszenierten Bild kann sich ein Handlungsfaden entspinnen, kann sich mithin "Erzählung" entfalten. Umgekehrt muss nicht jedes nachweislich inszenierte Foto auf Narration hin angelegt sein. Wovon und was beispielsweise erzählen Yasumasa Morimuras Rollenspiele" Wenn die Antwort lautet, sie erzählen davon, dass ein asiatischer Künstler westliche Malereigeschichte fotografisch adaptiert, "gender troublend" karikiert oder dergleichen mehr, dann muss die logische Konsequenz lauten, das alle Bilder erzählen, womit der Begriff der Narration als unbrauchbar zu verabschieden wäre. Und wie steht es um den Begriff der Fiktion" An dieser Stelle lediglich ein Vorschlag: Vielleicht ist ja das tragfähigere Gegensatzpaar – statt "dokumentarisch" versus "inszeniert" – jenes von "dokumentarisch" und "fiktional". Eben eine solche oder auch andere denkbar Möglichkeiten erwägt das vorliegende Buch jedoch nicht. Zugegeben: Eine Substitution des (unscharf bleibenden) Begriffs der inszenierten Fotografie beispielsweise durch einen der fiktionalen Fotografie (der bei Vogel immerhin immer wieder aufblitzt), hätte die das gesamte Buch durchziehende Theater-Metaphorik gefährdet, welche der Autor geschickt einsetzt, um seine von ihm selbst als "lapidar" ausgewiesene These zu unterstützen: "Fotografie hat mehr mit Theater gemein als bisher an- und zur Kenntnis genommen wurde." (16)
Ganz der Metaphorik und Terminologie des Theaters verpflichtet, wählt Vogel denn auch als Schema, um das nunmehr schier unüberschaubare Material systematisch zu ordnen (das zusammengetragen zu haben, indes eine Leistung für sich darstellt!), das Prinzip der "Schauplätze", also einzelner Szene, auf denen die FotografInnen ihren Auftritt haben. Er entwirft mithin eine Typologie von 24 Schauplatz-Kategorien, die jeweils in einer knappen Einführung konturiert und denen – jeweils in Auswahl – Fotografinnen und Fotografen zuordnet werden. Das thematische, zunächst chronologisch orientierte Spektrum reicht dabei von der "Geburt eines Genres" ("Schauplatz 1", u.a. mit der berühmten Fotografie Hippolyte Bayards als Ertrunkener) bis zur "Schrille[n] Eventfotografie" ("Schauplatz 24", u.a. mit Pierre und Gilles´ glamourösen Popbildern). Nun sind Typologisierungen und Kategorisierungen niemals vor Kritik gefeit, weil sich immer auch mindestens ein zweites, vermeintlich besseres, zumindest aber ebenso plausibles Ordnungsschema denken ließe. Gleichwohl fällt auf, dass die den Schauplätzen jeweils zugeordneten Exponenten, je weiter man sich der Gegenwart nähert, austauschbarer werden. Während beispielsweise Bayard zutreffend der "Geburt eines Genres" zugeschlagen wird, könnte Gregory Crewdson ("Schauplatz 23: Umfangreiche Menschenakkumulationen") ebenso gut auf dem "Schauplatz 22: Stellvertreter-Ichs" auftreten, zumindest in der Logik der Argumentation Vogels. Doch nochmals: Man sollte diese Möglichkeit mehrfacher Zuordnungen, welche wohl aus der Polyvalenz inszenierter Fotografie resultiert, nicht als Mangel des vom Autor gewählten Ordnungsschemas werten, inhäriert einem solchen doch immer schon die Bedingtheit seiner Alleingültigkeit. Die vielleicht einzige (und vermutlich wenig attraktive) Alternative wäre gewesen, eine alphabetische Ordnung der 70 Positionen vorzunehmen, womit Vogels Publikation im Buchregal als Speziallexikon getrost neben Koetzles Das Lexikon der Fotografen (2002) und Mißelbecks Prestels Lexikon der Fotografen (2002) seinen Platz gefunden hätte.
Ein gewichtiger Kritikpunkt sei nicht verschwiegen, der den originären Gegenstand und Ausgangspunkt jeglicher Fotogeschichtsschreibung betrifft: Mindestens als gewöhnungsbedürftig muss man den Umgang mit den Abbildungen ansprechen. Zwar wartet das Buch mit einer beeindruckenden Anzahl derselben auf (und dies zumal in farbigem Druck, der durchaus besser ist, als der Autor es in seiner "Fundus-Bemerkung" bescheiden einräumt). Doch wurde aus unerfindlichen Gründen auf jegliche Bildunterschriften verzichtet. Stattdessen darf der Leser sich damit mühen, die Autoren, Titel und Formalangaben (so sie denn im Fließtext angegeben sind) den Bildern zuzuordnen. Für Leser, die mit der Materie wenig vertraut sind, könnte sich diese – auf ihre Weise vielleicht ja als eine produktive intendierte Zusammenhangsbildung von Bild und Text – als veritabler Mangel erweisen. Am ehesten wohl lässt er sich erklären, berücksichtigt man die scharfe Polemik Vogels gegen die Vertreter der originalitäts- und auraversessenen Foto- und Kunstgeschichte. Denn die Fotografie sei, so Vogel, "durch die Kunst- und Museumsleute vom Anspruch durchseucht [...], original sein zu müssen [...]." (11). Wie immer man der Forderung nach Authentizität und Originalität der Fotografie gegenüber steht – die Alternative zur "warenfetischistischen" Fotogeschichte kann nicht darin liegen, fotografische Bilder auf das zu reduzieren, was sie bildlich darstellen, sie zu bloßen Illustrationen der eigenen Argumentation zu degradieren und ihnen bisweilen das Parergon zumindest der Autorschaft und Datierung zu verwehren. Dieser mitnichten schludrige sondern vermutlich programmatische Makel ist um so erstaunlicher, als der Autor selbst Fotograf ist – und, nebenbei bemerkt, als ein solcher unter "Myriaden von Ichs" auf dem Schauplatz 13 reüssiert.
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