Stefanie Diekmann
Editorial: Fotografie im Dokumentarfilm
Erschienen in: Fotogeschichte 106, 2007
Was ist dem Dokumentarfilm die Fotografie" Ein "konkurrierendes Darstellungssystem" (Simon Rothöhler) und eben darin: ein verwandtes, insofern der Begriff des Dokumentarischen zur Klassifikation von Filmen wie von Fotos herangezogen werden kann, sowie: Quelle, Material, das heißt: Bildbestandteil, und in anderen Fällen: Untersuchungsobjekt und Gegenstand einer filmischen Betrachtung, die sich einmal auf die fotografische Tätigkeit, einmal auf das fotografische Bild richtet, hin und wieder auch auf die Person des Fotografen.
Grundsätzlich gilt, dass die Fotografie für den Film, dessen genealogische, medientechnische Beziehungen zu dem älteren Medium bekannt sind, eine gewisse Faszination bewahrt hat. Im Spielfilm, von "Rear Window" (1954) über "Blowup" (1966) oder "Alice in den Städten" (1974) bis zu "Under Fire" (1983) oder "Calender" (1993) etc. nimmt diese Faszination die Gestalt des "Storytelling" an: Geschichten über Fotografen und das, was ihnen beim Fotografieren widerfährt; über deformations professionelles, die Modellierung des Blicks durch den Apparat; über das fotografische Sehen, das im Kino oft als ein anderes in Szene gesetzt worden ist: anders als das filmische Sehen, aber auch anders als jene phantasmatischen "unschuldigen" Blicke, die nicht apparativ vermittelt sind.
Für den Dokumentarfilm, der sehr häufig mit Fotos arbeitet, sie vorzeigt (wie Beweismaterial) oder begutachtet (wie Fundstücke), ist das Verhältnis schwieriger zu beschreiben, denn sicher werden auch in diesem Genre Geschichten erzählt, mit Fotos und über Fotos, im Modus des Expliziten ebenso wie implizit. Ein Dokumentarfilm kann von der Fotografie handeln, indem er ein fotografisches Bild in den Blick rückt und davon ausgehend eine Erzählung entwickelt. Aber er handelt ebenso von ihr, indem er sie "einsetzt", "verwendet"; in jedem filmischen Rekurs auf fotografische Bilddokumente ist auch etwas wie eine Idee von Fotografie aufzufinden, eine Vorstellung von fotografischer Evidenz oder Anschaulichkeit oder Zeugenschaft. Die Fotografie (als Bild, als Tätigkeit) auf der Leinwand zeigen, bedeutet, eine Konzeption von Fotografie in Szene zu setzen, und mit dieser Konzeption auch die eines Medienverhältnisses.
Medienverhältnisse, implizit konturiert: Man begegnet diesem Phänomen bereits in Dziga Vertovs Film Drei Lieder über Lenin (UdSSR 1934), der in der Lektüre durch Bernd Stiegler zunächst als eine Praxis der visuellen Parteinahme erscheint (für die "revolutionäre" Ästhetik einer fotografischen Avantgarde), dann als ein Szenario der Verlebendigung (was fotografisch mortifiziert war, wird durch den Film dynamisiert und gewissermaßen reanimiert) und schließlich als Akt der Kontemplation, der das Foto im Gefüge der laufenden Bilder als eine "Ikonostasis" hervortreten lässt.
Implizit auch die Konzeptionalisierung in Alain Resnais" Nuit et brouillard (F 1955): Wie Karin Gludovatz ausführt, werden hier im "alternierenden Einsatz" von Foto- und Filmbildern die indexikalischen Qualitäten der Fotografie gegenüber den inszenatorischen des Films profiliert, das fotografische Bild als Gegenstand der eindringlichen Betrachtung (zugleich: der unabweisbaren Eindrücke) instituiert, wobei, auch das macht der Kommentar deutlich, mehr und mehr aus dem Blick gerät, dass es sich um Aufnahmen sehr unterschiedlicher Provenienz handelt. Fotos der Nationalsozialisten, Fotos der Alliierten, in einem Fall sogar Fotos, die von den KZ-Häftlingen selbst aufgenommen wurden: Sie alle werden bei Resnais verwendet und in der Verwendung vorrangig als Bildzeugnisse wahrgenommen.
Andere Filme werden auf der Differenz der Autorschaften und Perspektiven – und ihrer Einschreibung ins fotografische Bild – insistieren. Zu diesen gehört Harun Farockis Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (D 1988), ein filmischer Essay über die Produktion und den Gebrauch von Bildern und über ihre wechselnde Bestimmung. Die von Farocki entwickelten Bezüge zwischen intendierter Verwendung, akzidenteller Signatur und veränderlichen Lesarten skizziert Kathrin Kollmeier mit Blick auf zwei Luftaufnahmen der alliierten Streitkräfte und ein Foto aus dem Album der SS-Lagerfotografen. Und sie verweist dabei auch auf die projektiven Züge einer Bild-Lektüre, die um einen zufällig im Foto fest-gehaltenen Blick eine Erzählung über Widerständigkeit und souveränes Handeln entfaltet.
Was Walter Benjamin in seiner Kleinen Geschichte der Photographie über eine Aufnahme des Fotografen David Octavius Hill notierte: dass in ihr etwas enthalten sei, "was nicht zum Schweigen zu bringen ist, ungebärdig nach dem Namen derer verlangend, die da gelebt hat, die auch hier noch wirklich ist ["]", findet in Bilder der Welt eine Bestätigung, wenn in den Ausführungen über das Foto der Jüdin Gisa Latjos mit dem Namen zugleich eine Erklärung, eine Agenda, eine Erzählung supplementiert werden. Die Fotografie (Medium der stillen Bilder) ist geeignet, dergleichen Erzählungen freizusetzen, eben weil sie das Verlangen nach Namen und Geschichte hervorruft, ohne es zu befriedigen. "Erzählen machen" wäre eine Formel, diesen Effekt zu beschreiben, eine andere: "zum Erzählen verführen" (oder nötigen). Wo sie sich um die Fotografie bemüht zeigen, sind Dokumentarfilme immer auch ein Zeugnis dieser Verführung, des Verlangens nach Ergänzung, dem in manchen Fällen entsprochen werden kann und in anderen nicht.
Supplementierungen: In Bilder der Welt sind es der Name und die projektive Rekonstruktion der fotografischen Szene, in Susan Meiselas" Pictures from a Revolution (USA 1991) wiederum die Namen, dann einige alternative Versionen zur Deutung der Fotos, Fragmente einer Rezeptionsgeschichte, etc. Die Erweiterung, so beschreibt es Matthias Christen, ist in diesem Film eine doppelte: zum einen vom fotografischen Zeugnis auf ein Szenario der konfligierenden Auslegungen und Verwendungen, zum anderen auch eine Erweiterung des medialen Ensembles, wenn in der Nachgeschichte einer Foto-Dokumentation die Fotografie durch schriftlichen Aufzeichnungen, eine Buchpublikation, Installationen, schließlich: einen Film ergänzt wird.
Auch Henri-François Imberts No pasarán, album souvenir (F 2003) ist als eine Recherche angelegt, die ihren Ausgang von einem fotografischen Konvolut nimmt. Aber anders als in Pictures from a Revolution wird "Geschichte" dabei nicht als wuchernde, programmatisch unabgeschlossene in Erscheinung treten, sondern als verlorene. Vergessene Namen, verschwundene, überdeckte Spuren; die Fotopostkarten, die als "Rätsel" (Birgit Kohler) am Anfang des Films stehen, nicht mehr als ein Restbestand; die Vervollständigung der Postkartenserie keineswegs gleichbedeutend mit einer erfolgreichen Rekonstruktion.
Weder Rekonstruktion noch Versöhnung gewährt der Film The Halfmoon Files (D 2007), der seine Betrachter ebenfalls mit einem Szenario der medialen Restbestände konfrontiert: Tonaufzeichnungen, Bildaufzeichnungen, die Aufnahme einer Stimme und eine Reihe fotografisch erfasster Physiognomien. Indessen, das ist die zentrale Beobachtung in Simon Rothöhlers Kommentar, erweist es sich bereits als unmöglich, die auditive und die visuelle Spur zusammenzuschließen, aus den kombinierten Aufzeichnungen (aber das Foto zur Stimme fehlt) etwas wie eine Persona erstehen zu lassen. Wie No pasarán, ist The Halfmoon Files vor allem eine Studie in Absenzen, keine Wiederherstellungsarbeit, was, unter anderen Vorzeichen, auch den von Matthias Wittmann ausgewählten Fake-Dokumentarfilm Sea Concrete Human – Malfunctions #1 (A 2001) beschreibt. Die Funktionsstörung, auf die der Titel anspielt, betrifft hier sowohl den Vorgang der Bild-Speicherung (die Aufzeichnungen erscheinen versehrt) als auch die Transmission, Sichtung (eine "Ordnung der Bilder" lässt sich trotz gegenteiliger Behauptungen nicht herstellen) sowie die Interpretation der fotografischen und filmischen Aufnahmen durch eine Sehmaschine, die sich zunehmend von den irritierenden Qualitäten des Materials affiziert zeigt. Ihr Ende findet die Sichtung dementsprechend nicht in der Komplettierung (oder einer Erkenntnis oder der Produktion von Übersichtlichkeit), sondern in der Verstetigung eines Zustands der Instabilität.
Es spricht manches dafür, dass der Dokumentarfilm die Fotografie kaum je als suffizientes Medium der Zeugenschaft behandelt hat (weshalb er ihre Bilder kommentiert, kontextualisiert und immer wieder durch andere Bilder ablösen lässt). Aber es ist zugleich sehr deutlich, dass die Verwendungen des fotografischen Materials, wie sie in No pasarán, The Halfmoon Files, Sea Concrete Human stattfinden, nicht länger darauf angelegt sind, dergleichen Insuffizienzen auszugleichen (oder aufzuzeigen, was, mit gewisser Vorsicht, vielleicht über Bilder der Welt oder über Pictures From a Revolution gesagt werden kann). Vielmehr werden der Fragmentcharakter, die temporalen Irritationen, die melancholische Kontemplation, die zu den vielzitierten Eigenschaften der Fotografie gehören, konstitutiv für eine andere Darstellungsökonomie, die noch dort bestimmend bleibt, wo sich der filmische Blick ins Off des fotografischen Bildes richtet.
Im Off: ein Umfeld, eine Interessenkonstellation, die historisch und institutionell spezifischen Bedingungen der Bildproduktion, eine Vorgeschichte, eine Nachgeschichte, Akteure, Begegnungen, und nicht zuletzt andere Bilder, sie nicht gezeigt, oft nicht einmal entwickelt worden sind.
Unter den hier vorgestellten Filmen sind auch zwei, deren Erzählung auch das Fotografieren selbst fokussiert – als Praxis, professionelle Tätigkeit ", und es ist auffallend, dass in beiden die Fotografie gewissermaßen aus dem Off erschlossen wird: im ersten Fall dem Off der Handlungen, die der Entstehung eines Fotos vorausgehen, im zweiten dem Off des Kontaktbogens. William Klein konzipiert in Contacts (USA 1986) seine Erzählung vom Fotografieren (und vom "richtigen" Foto), als eine Passage des Blicks über solche Bögen, i.e. über Bild-Reihen, die sich unter dem Blick der Kamera in einen Schauplatz der sekundären Entdeckungen verwandeln. Das Foto, so rekonstruiert Ekkehard Knörer diese Sichtungen, wird in Contacts weniger als Ergebnis von Entscheidungen und Auswahlprozessen behandelt, sondern als ein sich selbst offenbarendes "Ereignis", das in der Betrachtung der Kontaktbögen bisweilen auf- oder hervorzutreten scheint.
Weniger fetischistisch, vielmehr auf eine gewisse Banalisierung angelegt, gestaltet sich die Inszenierung fotografischen Handelns Raymond Depardons Reporters (F 1981). Depardon, erst Fotoreporter, dann Filmemacher, zeigt in Reporters keines der entstehenden Pressefotos und filmt stattdessen, was irgendwann zum Foto führt: das Warten, das Lauern, die Interaktion der Fotoreporter mit denjenigen, denen sie durch ihre Arbeit zu medialer Präsenz verhelfen, etc. Dass dabei trotz der banalisierenden Tendenzen ein letztlich melancholisches Porträt gezeichnet wird, führt Katharina Sykora auf die professionelle und biografische Umbruchsituation zurück, in der der Film entsteht: Die Konditionen der Pressefotografie ändern sich, ebenso die Formen und Regeln. Es ist kein aussterbendes Metier, das Depardon in seiner Studie erkundet, aber eines, in dem die Bedingungen der Bildproduktion härter geworden sind.
Werden in Reporters neben "einer ganzen Palette gestischen und habituellen Handelns" (Sykora) der Fotografen auch verschiedene Akzentuierungen des Verhältnisses zwischen dem Filmemacher und den Fotografen durchgespielt, so besteht die Pointe in Frederick Wisemans Law and Order (USA 1969) gerade darin, dieses Verhältnis im Zustand der Ambivalenz zu belassen. Die sieben "Mug Shots", die am Anfang von Law and Order stehen und nicht eindeutig als abgefilmte Polizeifotos oder als filmisch nachgestellte Foto-Zitate zu identifizieren sind, markieren einen Zustand der Übergängigkeit zwischen Fotografie und Film und, in der Lektüre Volker Pantenburgs, auch einen Übergang zwischen den Beobachterpositionen erster und zweiter Ordnung und damit ein "Relais", wie es für viele Dokumentarfilme des Regisseurs Wiseman kennzeichnend ist. (Der Rest des Films wird sich wiederum im fotografischen Off bewegen, durch die Szenen eines polizeilichen Arbeitsalltags, zu dem sich die Produktion des "Mug Shot", eher als Zäsur, Moment der Finalisierung verhält.)
Die mise en scène eines Medienverhältnisses, der Blick ins Off der Fotografie, das Erzählen-Machen, die konstitutive Einsicht in den fragmentarischen (bisweilen auch: den defizitären) Charakter fotografischer Dokumentation. Man hat es hier weniger mit einer "Typologie" oder mit einem "Spektrum" zu tun als mit einer Agenda, die sich aus all diesen Aspekten (und vermutlich noch einer ganzen Reihe weiterer) zusammensetzt. Dass es eine Agenda gibt, i.e. dass das Auftreten der Fotografie im Dokumentarfilm immer auch als Szene einer intermedialen Aushandlung zu betrachten ist, wird in den zehn Filmbesprechungen in diesem Heft auf je spezifische Weise anschaulich.
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