Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Valentin Hemberger

Durch den roten Osten geblättert

Die Darstellung der Sowjetunion in Illustrierten der Weimarer Republik 1919–1933

Dissertation, Justus-Liebig-Universität Gießen, FB 04 Geschichts- und Kulturwissenschaft, Osteuropäische Geschichte, Prof. Dr. Thomas M. Bohn, Kontaktadresse: valentin.hemberger(at)gmx.de

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 144, 2017 

Die Sowjetunion der 1920 und frühen 1930er Jahre stellte für die zerrissene Gesellschaft Weimar-Deutschlands je nach sozialen und politischen Standpunkt höchst Verschiedenes dar. Sie war geschichtsträchtiges Sehnsuchtsgebiet, revolutionärer Möglichkeitsraum, romantisch-volkstümliche Projektionsfläche oder apokalyptisches Schreckensbild eines drohenden Kultur-und Sittenverfalls. Anknüpfend an deutsche Russlandbilder des 18. und 19. Jahrhunderts entwickelten Gegner und Anhänger der neuen Ordnung im Osten eine ideologisch wie medial vielschichtige Widerspiegelung und Konstruktion der Sowjetunion. Die übergeordnete Suche nach Eigen- und Vorbildern der deutschen Klassengesellschaft fand ihren innovativsten wie schroffsten Niederschlag in der Medienlandschaft der Zwischenkriegsepoche.

Kern des seit Mai 2016 laufenden Dissertationsprojektes ist die Analyse und Durchdringung der verschiedenen inhaltlichen wie bildlichen Darstellungsweisen der Sowjetunion in Illustrierten der Weimarer Republik. Der in den 1990ern und 2000er Jahren ausgerufene visuell/iconic turn fiel nicht zuletzt in der Geschichtswissenschaft auf fruchtbaren Boden, offenbarte jedoch zeitgleich einen großen Nachholbedarf: So hält die illustrierte Presse der Zwischenkriegszeit für die Forschenden noch immer eine Vielzahl von Leerstellen und unbeleuchteter Zusammenhänge bereit, trotz vieler wegweisender Pionierstudien wie etwa von Dietmar Kerbs, Patrick Rössler, Konrad Dussel oder Bernd Weise.[1] Es fehlt beispielsweise eine umfassende Abhandlung der journalistischen Produktions- und Verarbeitungswege von fotografischen beziehungsweise textlichen Artefakten aus der Sowjetunion. Zwar liegen mit Wolfgang Müllers Dissertation über die Russlandberichterstattung der deutschen Presse zwischen 1924 und 1933 oder Matthias Heekens Monografie zum deutschen Reiseberichtswesen erste grundlegende Arbeiten zur Thematik vor,[2] doch liegt deren Schwerpunkt eher auf allgemeingeschichtlichen oder -journalistischen Aspekten. Anschlussfähiger, da mit zentralem fotogeschichtlichen Fokus, erweisen sich die Ausführungen Ursula Schludes zu den Beziehungen der deutschen und sowjetischen Arbeiterfotografenbewegung,[3] die zentrale institutionelle, politische und fotogeschichtliche Fragen dieses Spezialabschnittes erhellen.

Der für das Forschungsprojekt herangezogene Kernquellenkorpus wurde mit der zentralen Prämisse, einen Querschnitt des Illustriertenangebots der Weimarer Republik auswerten zu können, gebildet.[4] Zur näheren Untersuchung werden zum einen primär politisch-konnotierte Illustrierte wie die Arbeiter-Illustrierte Zeitung (AIZ), die Illustrierte Reichsbanner-Zeitung/Illustrierte Republikanische Zeitung (IRZ) sowie der Illustrierte Beobachter, zum anderen unterhaltende Formate wie die Berliner Illustrirte Zeitung (BIZ), die Münchner Illustrierte Presse (MIP), die KölnischeIllustrierteZeitung sowie DIE WOCHE herangezogen. Auswahlkriterien waren neben einer massenhaften reichsweiten Verbreitungdie allgemeine Möglichkeit, den parteipolitischen Einfluss sowie die immanente Konkurrenzsituation der großen Presseunternehmungen (Ullstein, DuMont Schauberg, Hugenberg, alternativ auch den Neuen Deutschen Verlag/Münzenberg) kontrastiv nachzeichnen zu können.[5]

Die zielgerichtete Untersuchung von Illustrierten als Produkte interessenbasierter Handlungen und Instrumente sozioökonomischer wie ideologischer Interessen stellt aufgrund ihrer komplexen Verschmelzung von textgefasster Sprache und Bildartefakten eine besondere Herausforderung dar. Diese wird hinsichtlich der Darstellung der Sowjetunion noch um fundamentale (bild-)journalistische Unklarheiten bei der Beschaffung von redaktionellen Rohmaterial verschärft: Politische Wirren während des Bürgerkrieges, die geringe Zahl von Korrespondenten, Zensur und Pressekontrolle ließen Berichte und Bildmaterial zu einem raren Gut werden. Wird die laufende Analyse in Form einer Pyramide gedacht, so bildet die Erschließung der institutionellen, technischen und personellen Grundlagen der deutschen Auslandsberichterstattung in der Sowjetunion, i.e. die Beschaffung von Rohnachrichten und -fotos (durch Sonderberichterstatter, Korrespondenten, Nachrichtenagenturen) den produktiven Unterbau.[6] Den Mittelbau stellt die Erschließung der ideologischen Rahmung und Verwendung der journalistischen Bausteine in den Redaktionen dar. In diesem Zuge soll die Einbettung der Illustrierten in das Presseportfolio der verschiedenen Verlagshäuser, ihre Interaktion beziehungsweise Abgrenzung von Presseerzeugnissen der Konkurrenz beleuchtet werden. Die gesellschaftliche Rezeption der Illustriertenbeiträge bildet die analytische Spitze, wobei die dürftige Überlieferungssituation eine schmerzlich eingrenzende Wirkung mit sich bringt und somit die beiden unteren Ebenen zum Haupterkenntnisinteresse der Arbeit erhebt.

In welchem Umfang und in welcher pressejournalistischen Qualität die verschiedenen Illustrierten über die Sowjetunion berichteten, stand in direkter Abhängigkeit von dem jeweiligen ökonomischen, pressegeschichtlichen und politischen Verortung des Blattes. Eigene wissenschaftliche Vorarbeiten im Rahmen einer Masterarbeit sowie gezielte Stichprobe des Kernquellenkorpus offenbaren, in welchem nationalen und internationalen Spannungsfeld sich die verschiedenen Illustrierten mit ihrer jeweils charakteristischen Darstellung der Sowjetunion bewegten: Im Jahre 1921 als Sowjetrußland im Bild in Reaktion auf die existenzbedrohende Hungersnot im Wolgagebiet gegründet, fungierte die AIZ des kommunistischen Presseverlegers Willi Münzenberg als bildgewaltiger Schaukasten und Propagandist einer erstarkenden UdSSR.[7] Exotik, Sensationen sowie der Kampf zwischen Modernismus und archaischer Einfachheit fokussierten die bürgerlichen Blätter BIZ und MIP. Antikommunistische beziehungsweise antisowjetische Positionen verschiedener Stoßrichtung bezogen hingegen die politischen Illustrierten wie die sozialdemokratisch-republiktreue IRZ oder der nationalsozialistische IB. Beide postulierten den direkten bild-inhaltlichen Angriff auf die UdSSR und gerierten dabei als Organe der Aufklärung über die wahren Verhältnisse im Osten.

Das theoretische Grundgerüst der Arbeit fußt auf Erkenntnissen und Forschungsergebnissen der (kritisch-) materialistischen Medientheorie und der Visual Studies, die die Eingebundenheit der Massenkommunikation respektive der Presse in den ganzheitlichen gesellschaftlichen Prozess von Produktion und Reproduktion[8] betonen und die Verwendung des Bildes im massenmedialen Kontextaufzuschlüsseln versuchen. In besonderer Würdigung der bereits erwähnten Bedeutung des Bild-Text-Verhältnisses im Kernquellenkorpus werden zudem Werkzeuge aus dem Theorie- und Methodenkästen solcher Vorreiter wie Hartmut Stöckl und Ulrich Schmitz[9] aufgenommen und angepasst verwendet. Als zusätzliche empirische Säule der Untersuchung erfolgt eine standardisierte Medieninhaltsanalyse, angelehnt an die wegweisenden Forschungen Konrad Dussels beispielsweise zur den Pressbildern der Weimarer Republik.[10]


[1] An dieser Stelle sei beispielhaft auf einen ausstellungsbegleitenden Sammelband von 1983 hingewiesen: Diethart Kerbs, Walter Uka, Brigitte Walz-Richter (Hg.): Die Gleichschaltung der Bilder. Zur Geschichte der Pressefotografie 1930–36, Berlin 1983.

[2] Wolfgang Müller: Russlandberichterstattung und Rapallopolitik. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1924–1933 im Spiegel der deutschen Presse, Saarbrücken 1983; Matthias Heeke: Reisen zu den Sowjets. Der ausländische Tourismus in Rußland 1921–1941.Mit einem bio-bibliographischen Anhang zu 96 deutschen Reiseautoren, Münster u.a. 2003, Zugl.: Münster (Westf.) Univ. Diss., 1999.

[3] Ursula Schlude: „Es wäre uns peinlich, schlechte Fotos zu schicken.“ Die Austauschbeziehungen zwischen deutschen und sowjetischen Arbeiterfotografen 1926 bis 1933, in: Wolfgang Hesse (Hg.): Die Eroberung der beobachtenden Maschinen. Zur Arbeiterfotografie der Weimarer Republik (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, Bd. 37), Leipzig 2012, S. 113-158.

[4] Es wird die Definition einer Illustrierten gemäß Dietmar Kerbs angesetzt: Format zwischen 27 x 37cm bis 29 x 39 cm, mindestens acht lose ineinander gelegte Seiten, davon mindestens vier Bildseiten sowie ein bebildertes Titelblatt, durchschnittlicher Preis um die 20 Pfennig, vgl. Dietmar Kerbs: Die illustrierte Presse am Ende der Weimarer Republik, in: Ders., Henrick Stahr (Hgg.): Berlin 1932. Das letzte Jahr der ersten deutschen Republik. Politik, Symbole, Medien, Berlin 1992, S. 68-89, hier: S. 68.

[5] Vgl. etwa Bernhard Fulda: Press and Politics in the Weimar Republic, New York 2009.

[6] Die Auswertung archivalischer Quellen umfasst u.a. institutionelle Provenienzen wie das Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes, die Bestände der Deutschen Botschaft Moskau (Bundesarchiv Berlin), verschiedene Bildagenturen (Ullstein-Archiv, TASS) sowie Nachlässe involvierter Fotografen und Redakteure.

[7] Das Verhältnis AIZ – UdSSR ist bis auf die in der Forschung stärker rezipierte Episode der Darstellung einer Moskauer Arbeiterfamilien, den Filipows, aus Heft 38, 1931, weitgehend unerforscht.

[8] Vgl. exemplarisch Rolf Sülzer: Sozialgeschichte als Aspekt der Medientheorie, in: Jörg Aufermann, Hans Bohrmann, Rolf Sülzer (Hg.): Gesellschaftliche Kommunikation und Information, Bd. 1, Frankfurt am Main 1973, S. 207-273. Als Einführung in die (kritisch-)materialistische Medientheorie vgl. z.B. Jochen Robes: Die vergessene Theorie: Historischer Materialismus und gesellschaftliche Kommunikation. Zur Rekonstruktion des theoretischen Gehalts und der historischen Entwicklung eines kommunikationswissenschaftlichen Ansatzes, Stuttgart 1990; Udo Göttlich: Kritik der Medien. Reflexionsstufen kritisch-materialistischer Medientheorie am Beispiel von Leo Löwenthal und Raymond Williams, Opladen 1996.

[9] Vgl. etwa Hartmut Stöckl: Die Sprache im Bild – Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild. Zur Verknüpfung von Sprach und Bild im massenmedialen Text, Konzepte, Theorien, Analysemethoden, Berlin u.a. 2004; auch: Hajo Diekmannshenke, Michael Klemm, Hartmut Stöckl (Hgg.): Bildlinguistik. Themen, Theorien, Methoden, Fallbeispiele, Berlin 2011.

[10] Vgl. zur Methodik Konrad Dussel: Pressebilder in der Weimarer Republik: Entgrenzung der Information, Berlin 2012, S. 139-149.

 

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