Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anja Guttenberger

Foto-Chronist der Aufbaujahre Israels

Anna-Patricia Kahn, Ben Peter, Michal Amram (Hg.): Rudi. Discovering the WeissensteinArchive, Heidelberg: Kehrer Verlag, 2016 (engl.), 24 x 28 cm, 160 S., 96 Abb. in Duotone, gebunden, 45,00 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 143, 2017

In Europa weitgehend unbekannt, zählt Rudi Weissenstein in Israel zu den populärsten und bedeutendsten Fotodokumentaristen des Landes. Mit seinen Bildern von Israels Gründervater David Ben Gurion und anderen Ikonen der Anfangszeit Israels erlangte er Weltruhm. Über eine Million Mal drückte er auf den Auslöser seiner Kamera. Heute sind die Negative im größten privaten Bildarchiv Israels – dem PhotoHouse – erhalten. Die im Kehrer Verlag erschiene englischsprachige Publikation Rudi. Discovering the Weissenstein Archive zeigt eine Auswahl von 90 unbekannteren, künstlerischen Fotografien aus dem Archiv. Der Leser blättert in dem Bildband wie in einem wunderbaren Fotoalbum.

Shimon Rudolph Weissenstein (1910–1992) wurde 1910 in Iglau/Jihlava im heutigen Tschechien geboren. Nach einem Studium an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien (1929–1931) arbeitete er als Fotojournalist in Prag. Mit dem aufkeimenden Nationalsozialismus beschloss der zionistisch erzogene Weissenstein, 1936 ins damalige Palästina auszuwandern. Das Gebiet stand zu diesem Zeitpunkt unter britischer Verwaltung, der Staat Israel wurde zwölf Jahre später ausgerufen. Auch hier arbeitete er als freier Fotojournalist für Zeitungen vor Ort und für die zionistische Presse im Ausland (u.a. für die Berliner Jüdische Rundschau). 1940 heiratete Weissenstein die in Wien ausgebildete Tänzerin und Akrobatin Miriam Arnstein (1913–2011), die bereits vor ihm nach Palästina emigriert war. Gemeinsam übernahmen sie im selben Jahr das Pri-Or PhotoHouse in Tel Aviv, das sich zu einer anerkannten Kulturinstitution entwickelte. Nach Rudi Weissensteins Tod im Jahr 1992 führte seine Frau dieses weiter. Als auch sie 2011 starb, übernahm der Enkel Ben Peter das Haus und die Nachlassverwaltung.

Als fotografischer Chronist der Aufbaujahre Israels begab sich Weissenstein auf zahlreiche Reisen durch das Land. Mit seiner Kamera hielt er Lebensausschnitte im Bild fest, die für sich stehen und größere Zusammenhänge ausblenden. Es sind heroische, zukunftsweisende Fotografien. Sie zeigen Gruppen junger, vor Vitalität strotzender Menschen, die hoffnungsvoll der Sonne entgegen schreiten. Die Bildsprache charakterisiert eine ganze Generation junger Menschen, die Europa und Amerika verlassen hatten, um im „Gelobten Land“ ein neues Leben zu beginnen. Es sind auch Bilder karger Landschaften, aus der Neubauten und moderne Maschinen wie Fremdkörper herausragen. Vergangenheit trifft Zukunft und Fortschritt. Daneben gibt es Fotos von Neuankömmlingen, deren Hab und Gut, in Containern verstaut, den Hafen erreicht oder die, auf ihren Reisekoffern sitzend, Rast machen. Andere Bilder halten die Wehmut der Immigranten fest; sie schauen in die Ferne oder lesen Briefe. Hinzu kommen gestellte Gruppenportraits und Momentaufnahmen aus dem Alltagsleben, die der Fotograf mit seiner Kamera einfing. Rudi Weissensteinwar es, der am 1. Mai 1948 als einziger offiziell zugelassener Fotograf die Feier zur Gründung des Staates Israel dokumentieren durfte. Seine Aufnahme von David Ben-Gurion bei der Verlesung der Unabhängigkeitserklärung machten ihn weltweit bekannt.

Die Besonderheit dieser Publikation ist, wie bereits der für den Titel gewählte Vorname des Fotografen „Rudi“ andeutetet, der sehr persönliche Zugang des Herausgebers: Ben Peter hat die Bilder mit viel Sensibilität ausgewählt. Man schmökert in den zahlreichen Fotografien in ausgezeichneter Duotone-Druckqualität wie in einem privaten Fotoalbum. Mit seiner Auswahl stellt der Enkel des Fotografen nicht nur einen Fotografen vor, sondern zugleich auch seinen Großvater. Galt Weissenstein bisher vor allem als Fotodokumentarist, offenbaren die hier präsentierten weniger bekannten Fotos nun auch seinen künstlerischen Zugang. Ein Mädchen steht im Zentrum einer Fotografie am Fenster und blickt hinaus. Symmetrisch angeordnet befinden sich links und rechts von ihr fast identisch Regal, Bett und Stuhl. Das von außen hereinströmende helle Sonnenlicht lässt sie fast engelsgleich erscheinen. Der Titel verrät, dass die Aufnahme in einem Kinderheim für Überlebende des Holocaust in Ra'anana entstanden ist. Es sind  Bilder wie dieses, die uns mit präzise gewählter Perspektive, einem akzentuierten Rahmen oder ungewöhnlichen Bildmotiven eine andere Facette des Fotografen Rudi Weissenstein zeigen.

Eingeordnet wird der Bildteil von einem Essay, der ausführlich argumentiert, warum die hier gezeigten Fotografien Weissensteins nur einen geringen journalistischen Wert besäßen, weil sie wie in „kindlicher Naivität“ die historischen Weltereignisse der Zeit komplett ausblendeten. Kriege und politische Hintergründe träten in Weissensteins Bildern nicht auf. Doch sind es nicht solche Fotografien junger Leute, die Kibbuzim in der Wüste bauen, ankommende Menschen, die mit ihrem Gepäck auf Schiffen einreisen, die ein klares Statement gegen den Krieg setzen? Weissenstein bildete mit seinen Möglichkeiten und auf seine Weise Kriegsfolgen aus der Ferne ab und dokumentierte so die Abwendung vieler Juden von Europa und Amerika und die Hinwendung nach Palästina bzw. Israel. Er tat es als Chronist des neu gegründeten Staates Israel und der Einwanderer – zu denen er selbst gehörte. In einem sechsseitigen Index werden alle Fotografien im Kleinformat samt Titel, Ort, Entstehungsjahr sowie Seite und Archivnummer im Buch aufgeführt - eine wichtige Hilfestellung, die ein Hin- und Herblättern verhindert und einen Überbrlick über die abgebildeten Fotografien gibt.

Ein Interview der Direktorin der °CLAIR Gallery Anna-Patricia Kahn mit Ben Peter unter dem Titel A Story of Loves rundet die Publikation ab. Hier erzählt der Enkel Weissensteins von seinen Kindheitserinnerungen an den „Shop“ (das PhotoHouse) und das fast schon intime Verhältnis seiner Großeltern zu ihrem Laden, von der engen Beziehung zu seiner Großmutter Miriam Weissenstein und darüber, wie unvorhergesehen er in die Rolle des Kurator-Enkels geriet.

Verpackt in eine Art privates Familienalbum konzentriert sich dieser Bildband voll und ganz auf die Fotografien. Auch wenn Rudi Weissenstein oft als Journalist angesehen wird, bringt uns spätestens dieses Buch den künstlerischen Fotografen nahe. In vielen der gezeigten Bilder steht die ausgewogene Schönheit der Komposition über dem rein dokumentarischen Ziel der Berichterstattung für die Außenwelt. Die Publikation ermöglicht einen anderen Blick auf das Werk Weissensteins, der zu Lebzeiten mit beeindruckender Ausdauer und Leidenschaft fotografierte und sein Bildarchiv täglich vergrößerte. Aus dem über eine Million Bildnegative umfassenden Archiv des PhotoHouse macht Ben Peter nun einige unbekanntere Schätze für die breite Öffentlichkeit zugänglich.

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