Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Margarete Wach

Magnum im Osten

Ost-West-Bildtransfer im Kalten Krieg in Polen: Fotografie und Fotoreportage in der Wochenzeitung Świat (1951–1969)

Teil des Forschungsprojekts „Fotografie in Polen von 1918 bis 1989“, Universität Tübingen, Seminar für Slawistik, und der Universität Warschau, Institut für Polnische Kultur/Abteilung für audiovisuelle Kultur; Projektteam: Prof. Dr. Schamma Schahadat, Dr. Margarete Wach, Dr. Iwona Kurz; Veröffentlichungsform: Aufsatz-, Zeitschriften- und Buchpublikationen, Tagungen, Internetportal; Finanzierung der Vorbereitung durch ein Forschungsstipendium des DHI Warschau, Kontakt: wach.m(at)t-online.de

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 142, 2016

Die polnische Fotoreportage der 1950er- und 1960er-Jahre wurde wesentlich durch die illustrierte Wochenzeitung Świat (Die Welt, 1951–1969) mitgeprägt. Die Zeitschrift wurde von Władysław Sławny (1907–1991) mitgegründet, der das Blatt im Stil der Ästhetik des „entscheidenden Augenblicks” von Henri Cartier-Bresson entwickelt hat. Sławny ging 1931 nach Paris, arbeitete in den 1930er-Jahren als Pressefotograf für die Magazine Vu und Regards, lernte neben Cartier-Bresson wichtige Fotografen der Zeit wie Robert Capa, David Seymour, Izis (Israëlis Bidermanas), Brasssaï (Gyula Halász) oder Ylla (Camilla Koffler) kennen. Im Zweiten Weltkrieg wurde er Kriegsreporter der Polnischen Exilarmee in der Schlacht um Narvik und ab 1945 Fotoredakteur der Pariser Zeitung Gazeta Polska. 1950 schließlich übernahm er in Warschau die Leitung der Fotoredaktion des neuen Magazins Świat, in dem Fotoreportage als eigene Gattung eine exponierte Rolle einnehmen sollte. In der leitenden Funktion konnte Sławny bald eigene Vorstellungen von der Fotoreportage umsetzen. Für seine Auftraggeber von der Verlagsgenossenschaft „Prasa” dürfte der erfahrene Pressefotograf aus Frankreich ein Garant dafür gewesen sein, dass ihre Illustrierte mit der westlichen Konkurrenz Schritt halten und ein vergleichbares Vorzeigeobjekt im Kalten Krieg abgeben würde wie die führenden Magazine Life oder Picture Post, nach deren Vorbild sie konzipiert wurde.

Der untersuchte Materialkorpus erfasst alle Ausgaben von Świat. Ausgewertet wurden darüber hinaus die Ergebnisse einer Recherche zur Rezeption der Magnum Photos in der Volksrepublik Polen. Sie betreffen alle Jahrgänge der Fachzeitschrift Fotografia (1953–1972), Publikationen zu den jüngsten Ausstellungen über Sławny (DSH, Warschau 2012) und Świat (Nationalmuseum, Warschau 2013), veröffentlichte Zeitzeugenaussagen sowie themenbezogene Bestände des Online-Fotoarchivs von Magnum Photos. Zentrales Augenmerk wird dabei auf die transkulturellen Ost-West-Bildtransfers unter Zuhilfenahme von persönlichen Kontakten und redaktionellen Praktiken gelegt, die sie begünstigt haben. Diese Schwerpunktsetzung folgt der These, dass die Magnum-Fotografie eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Pressefotografie und Fotoreportage als einer narrativen Gattung in der Volksrepublik Polen gespielt hatte. In diesem Zusammenhang hat es einen massiven Wissens-, Personal- und Bildtransfer zwischen Polen und Frankreich gegeben, der in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre eine Blüte erlebte.

Die Verstaatlichung des Verlags-, Druck- und Pressewesens nach dem Krieg sowie die Errichtung von Kontrollinstanzen für die Presse gingen in Polen mit der Einführung einer präventiven Zensur einher, die der Propaganda in die Hände spielte. Im neuen politischen System lag die gesellschaftliche Rolle der Fotografie in der Agitation. Die ersten Versuche, mit der westlichen Konkurrenz Schritt zu halten, unternahmen die Wochenzeitungen Stolica (Die Hauptstadt,1946) und Nowa Wieś (Neues Dorf, 1948). Die reich bebilderten Magazine glorifizierten im Wiederaufbaupathos die Arbeiterklasse bzw. priesen die Vorzüge des Dorflebens im Sozialismus. Der Fotografie wiesen sie eine illustrative Funktion zu: auf der Basis bildlicher Evidenz die behauptete Authentizität der Inhalte zu bezeugen. Zumaldie Inszenierbarkeit von Bildern der Fotografie das ideologisch verwertbare Potential verlieh, voluntaristische Wirklichkeitssimulationen kreieren zu können. Dank Sławny und des Chefredakteurs Stefan Arski, der sich seine journalistischen Sporen im US-amerikanischen Kriegsexil verdient hatte, kamen in Świat die Praktiken der modernen Fotoreportage zur Geltung. Mit Jan Kosidowski hat bald ein am New Yorker Institute of Photography ausgebildeter Fotoreporter die Redaktion verstärkt. Sławnys professionelle Fotoausrüstung aus Frankreich lieferte die technische Basis für hochwertige Aufnahmen.

Świat entstand in der Hochphase des Stalinismus und der sozrealistischen Doktrin, musste sich demzufolge unter den Bedingungen eines ideologisch-politischenDrucks behaupten, der vom Parteiapparat ausgeübt wurde. Propagandaziele realisierte man in der Anfangsphase in den Texten und mit Hilfe von Fotos, die über ausländische Agenturen oder Zeitungen wie z.B. United Press, Photo Pic, Keystone, Planet News, TASS, Paris Match oder Ogonjok beschafft und von der Centralna Agencja Fotograficzna (Zentrale Fotoagentur) der Redaktion aufoktroyiert wurden. Bis 1954 dürften die hauseigenen Fotografen ausschließlich inländische Themen bearbeiten. Dennoch gelang es Sławny den Stil seiner westlichen Kollegen von Magnum Photos (subjektiver Blick, Autorenstatus, Symbiose aus Künstler und Reporter, Narrativität, soziales Engagement) in Świat weitgehend auf die Realia des stalinistischen Polens zu übertragen, um ihn in der Tauwetter-Periode ab 1956 richtungsweisend für die Fotoreportage in Polen zu etablieren. Eine nicht unerhebliche Rolle spielten dabei zwei Ausstellungen, durch die die Magnum-Fotografie weltweit Verbreitung fand: Edward Steinchen’s „The Family of Man” (1955–1961) und die erste Magnum-Gruppenschau 1956 auf der Photokina in Köln. Beide Ausstellungen wurden in der polnischen Fachwelt intensiv rezipiert und jeweils 1959 bzw. 1966 nach Polen geholt. Sie haben nicht nur den „Eisernen Vorhang“ durchlässiger gemacht, sondern auch die Emanzipation von der sozrealistischen Ästhetik befördert. Das Tauwetter brachte eine politische Auflockerung, die auf allen Kulturgebieten ein immenses Nachholbedürfnis freigesetzt hatte. Die in den Ausstellungen propagierte „humanistische Fotografie“ wies durch ihr soziales Engagement nicht nur Schnittstellen mit der kommunistischen Ideologie auf, sondern bot einen Ausweg aus dem ideologischen Dilemma zwischen Funktion und Form des Bildes an. Im Sozrealismus rückten Fragen nach der gesellschaftlichen Mission der Fotografie, nach ihrem Realismus, Thema und Inhalt in den Vordergrund. Ihre künstlerische Dimension, Form und Stil, fielen unter den Verdacht des Formalismus. Folglich herrschte das absolute Primat des Inhalts vor. Die „humanistische Fotografie“ von Magnum Photos implizierte hingegen die Option, die formale Seite des fotografischen Bildes bei gleichzeitiger Beibehaltung seiner gesellschaftlichen Fokussierung hervorheben zu können.

Dank der Kontakte von Sławny konnten in Świat Arbeiten bekannter Fotografen exklusiv publiziert oder aufsehenerregende Fotoreportagen wiederabgedruckt werden, wie Ende Februar 1955 die Moskau-Reportage Cartier-Bressons, die im Januar 1955 in Life erschienen war. Im Herbst 1956 hielt sich Cartier-Bresson im Auftrag von Life und Paris Match länger in Warschau auf, um die Ereignisse im Zuge des Polnischen Oktobers zu dokumentieren. Neben ideellem Austausch sorgte er bei seinem Besuch in der Świat-Redaktion für einen technologischen Transfer, indem er anhand seiner Leica-Ausstattung den Redakteuren die Vorzüge der kurzen Belichtungszeit und der Schnappschuss-Fotografie nahebrachte. Zuerst mit Hilfe der sowjetischen Kleinbildkamera Zorka, später mit Leicas, rückten die hauseigenen Reporter in den folgenden Jahren von der statischen Komposition der Fotografie zugunsten dynamischer und spontaner Momentaufnahmen ab, was mit den politischen Veränderungen im Land korrespondierte. Mit dem Wechsel der Parteiführung und der Lockerung der Zensur 1956 ist es auch zu einer Öffnung für kulturelle Einflüsse aus dem Westen gekommen. Die Fotoredaktion von Świat avancierte zu einem internationalen Treff- und Stützpunkt für Fotografen. Neben Aufnahmen von Magnum-Mitgliedern wie Cartier-Bresson, David Seymour, Bruce Davidson, Werner Bischof, Kryn Taconis oder Willy Ronis veröffentlichten im Blatt auch Fotografinnen und Fotografen wie Robert Doisneau, Roger Mayne, Dirk Alvermann, Caio Maria Garrubba, Lisa Larsen oder Nelly Niebuhr ihre Fotoreportagen.

1957 kehrte Sławny aus familiären Gründen nach Frankreich zurück. Die Leitung der Fotoredaktion übernahm bis zur Einstellung der Zeitung 1969 Jan Kosidowski. Seit Anfang der 1960er-Jahre beseitigten die Staatsorgane sukzessiv jene Freiräume, deren Entstehung auf den Polnischen Oktober zurückzuführen war. Während der antisemitischen Hetzkampagne des Parteiapparates 1967/68 weigerte sich Arski, tendenziöse Texte und Bilder zu akzeptieren. Die Tage von Świat waren danach gezählt. Ein geringer Teil des originalen Fotomaterials hat sich in den Privatarchiven der Reporter erhalten, die dem Nationalmuseum in Warschau vermacht worden sind. Zwei Tausend Negative aus seiner Zeit bei Świat hat Sławny nach Paris mitgenommen. Alle anderen Negative und Abzüge verblieben bis zu seiner Auflösung und Vernichtung im Fotoarchiv der Zeitung. Die letzte Quelle für diese fotohistorischen Zeitzeugnisse bilden heute die archivierten Zeitungsbände von Świat.

Literatur:

Wach, Margarete: LifeParis MatchŚwiat.  Poland and the World through the Lens of the Weekly Magazine Świat (1951–1969) and the Development of the Polish Photo Reportage Following the Example of the Magnum Group, in: International Journal for History, Culture and Modernity, Vol. 4, No. 2 (October 2016). https://www.history-culture-modernity.org/

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