Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Andreas Krase

Berliner Stadtfotografie – revisited

Miriam Paeslack (Hg.): Berlin im 19. Jahrhundert. Frühe Photographien 1850–1914, München: Schirmer/ Mosel 2015, 232 S., 28,5 x 25,0 cm, 183 Tafeln und 12 Abb. in Duotone, gebunden, 49,80 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 141, 2017

Ein erster Blick auf das Buch vermerkt ein konservatives Erscheinungsbild. Es handelt sich um eine respektable Edition mit historischen Fotografien der Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Beim Blättern fällt die in allen Details wohl erwogene Machart auf: Die grafischen Elemente folgen einem klaren Muster, die in leider völlig einheitlichen Sepiatönen gedruckten Abbildungen sind regelmäßig angeordnet. Verlagsseitig hat man sich offensichtlich einer Aufmerksamkeitssteuerung durch die Möglichkeiten eines ambitionierten Grafikdesigns enthalten. Auch das Motiv auf der Umschlagvorderseite, eine um 1900 entstandene Amateurfotografie des Brandenburger Tores mit zufälligen Passanten, vermeidet den werbenden visuellen Effekt. So wirkt die Publikation des renommierten Schirmel/Mosel Verlages ein wenig aus der Zeit gefallen: Beim Betrachter wird schon ein gewisses Interesse vorausgesetzt.

Vorläufige Aufklärung bietet eine Bemerkung der Herausgeberin und Autorin des Einführungsessays, derzufolge Buch, Bildchoreographie und Text „Ergebnis einer grundlegenden Überarbeitung des gleichnamigen Bandes von 1984“[1] sind. Und weiter wird ausgesagt, dass eben diese erste Ausgabe aus „Westberliner Sammlungsperspektive“ erfolgte und dreißig Jahre später Archive und Bildbestände „in ganz Berlin“ hätten genutzt werden können.[2] Auch diese Einordnung überrascht, liegen doch die bezogenen historischen Ereignisse, der Fall der Berliner Mauer, der Prozess der Wiedervereinigung und damit auch der Öffnung der Ost- wie Westberliner Sammlungsbestände für alle Interessenten bereits gut 25 Jahre zurück. Auf die Gegenwart, auf den aktuellen Zeitgeist mit seinen auf Restaurierung und Wiederherstellung gerichteten Tendenzen, bezieht sich die Neuausgabe des Jahres 2015 dezidiert: Die Wiedererrichtung des Berliner Schlosses ist dessen zentrales Symbol. Gerade dem Schloss wird im Buch gehöriger Platz eingeräumt. Die editorische Entscheidung, das Hauptaugenmerk auf Berlin als sich ständig wandelnde und in Bewegung befindliche Stadt zu richten, mag eben diesem Umstand affirmativ entsprechen. Die einstige Zuschreibung von Karl Scheffler, Berlin als eine Stadt zu definieren, die davon geprägt ist „immerfort zu werden und niemals zu sein“[3] passt zum zeitgenössischen Geschehen eines anhaltenden Baubooms. Zu diesem passt auch, als eine Art kontrapunktische Betrachtung, die Frage nach beständigen ikonischen Traditionen der Metropole, nach einer fest umrissenen, geklärten, fotografischen Imagination der Vergangenheit – auch vor dem Hintergrund einer unfassbaren, weil in Myriaden von Bildern zerstiebenden Gegenwart. Und damit zu einem Thema, das die Autorin als eigenen Forschungsschwerpunkt angibt: Konzepte architektonischer und urbaner Erinnerung, Überlieferung und Identität.

Der Einführungsessay von Miriam Paeslack bezieht sich konzeptuell auf ihre Dissertation „zum Darstellungswandel, den Medieneigenschaften, den Akteuren und Rezipienten von Stadtfotografie“ am Beispiel der entstehenden Metropole Berlin im Zeitraum 1871–1914 von 2001.[4] Diese referierte den inzwischen bereits wieder „historischen“ Diskussionsstand zum Thema Stadtfotografie und zählte  – zwangsläufig ohne jegliche Vorahnung – die Erstausgabe der Publikation von 1984 als eine von vielen Quellen und Vorleistungen auf.[5] Eine englisch verfasste, aktualisierte Version des Manuskripts steht zur Drucklegung an.[6]

Die ursprüngliche Fassung des Bildbandes, verantwortet vom Gründungskurator für Fotografie der Berlinischen Galerie, Janos Frecot und dem Architekturhistoriker Helmut Geisert, fiel in die gewissermaßen „heroische Phase“ der entstehenden historischen Disziplin der Fotografiegeschichtsschreibung in den deutschsprachigen Ländern. Unabhängig voneinander hatten sich gegen Ende der 1970er Jahre in beiden deutschen Staaten sowie in Österreich und der Schweiz Interessen formiert, waren erste Foren und Formen fotohistorischen Arbeitens entstanden. Auch die Gründung der Zeitschrift Fotogeschichte erfolgte nicht zufällig in dieser Zeit. Und gleich zu Beginn dieser Periode, oder eigentlich etwas davor, startete 1974 der Verlag Schirmer/Mosel als Kunstbuchverlag mit einem auf „Autorenfotografie“ spezialisierten Programm. In diesem sollte auch die bisher unübertroffene Anthologie zur Fotogeschichte, die kommentierte Textsammlung von Wolfgang Kemp zur Theorie der Fotografie erscheinen[7] und wurden beständig Bildbände mit historischen Städteansichten verlegt.

Einige der im Band namentlich berücksichtigen Stadtbildfotografen – etwa Max Missmann, Hermann Rückwardt, Friedrich Albert Schwartz und Waldemar Titzenthaler, sowie Albrecht Meydenbauer und dessen Messbildverfahren – waren seit Ende der 1970er Jahre wiederentdeckt und mit Publikationen bedacht worden. Von hervorragender Bedeutung auch für die Verlagsgeschichte war die Auffindung der Fotografien von Heinrich Zille. Der aus heutiger Sicht absurd erscheinenden Situation im geteilten Berlin mit getrennten Museumsbeständen entsprechend lag der jeweilige Schwerpunkt bis 1990 bei den in West oder Ost erreichbaren Archiven, wie eben auch im Fall der ersten Auflage des Berlinbandes von 1984. Diese Beschränkung, aber auch die Konkurrenzsituation West–Ost wurde in den jeweiligen Veröffentlichungen nicht thematisiert. Überhaupt erfolgte die Rückbesinnung auf die Geschichte Berlins vor 1900 und die Vermittlung von Zeugnissen noch länger zurückreichender Architekturgeschichte durch die Fotografie parallel, aber aus teilweise unterschiedlichen Gründen: Im Westen im Zuge von Gegenentwürfen zu rigiden Stadterneuerungsplänen, einer nicht selten linksintellektuell verorteten Ausdifferenzierung der historischen Wissenschaften, im Osten in einer eben solchen, jedoch auch im Zusammenhang einer Erweiterung der Konzeption von kulturellem Erbe, die staatspolitisch motiviert war. Die Interessenlagen der Denkmalpflege wirkten allerdings auf beiden Seiten mit. Wenn Frecot/ Geisert 1984 als Leitfigur eines imaginären Spazierganges durch das historische Berlin das literarische Bild des „Flaneurs“ von Franz Hessel wählten, so wanderte diese unbekümmert um die Demarkationslinien der Berliner Mauer über Straßen und Plätze des imperialen Berlin. Und etwa so ging es auch bei den Aktivitäten im Ostteil der Stadt unter der Voraussetzung, die behandelte Periode war historisch weit entfernt und damit politisch unverfänglich genug. Die folgenden Aktivitäten der 1990er Jahre beschreibt die Autorin in ihrer Dissertation. Nach Ende dieses Jahrzehnts konnte die Mehrzahl der historiografischen Desiderata als eingelöst betrachtet werden, manches Vorhaben war allerdings auch schlicht gescheitert.

Die vorliegende Publikation orientiert sich in vier Hauptkapiteln weniger an topografischen Zuordnungen, als an fotografischen Sehweisen und Blickwinkeln. Sie teilt mit der Erstausgabe nur etwa ein Drittel der bisherigen Fotografien. Das gesamte Bildmaterial ist allerdings weitgehend bekannt. Der Band von 1984 war, in einem quasi poetologischen Verfahren, darauf ausgerichtet, einen Text aus Sequenzen von Fotografien zu montieren und, wiederum aus den Bildfolgen „den Text der Stadt (…) zu rekonstruieren“[8]. An den Grundgedanken, die „Großstadt als ‚Text‘“ zu begreifen und zu lesen, schließt die Autorin unter Bezug auf eine spätere Publikation an.[9] Die deutsche Hauptstadt wird – im Unterschied zu anderen europäischen Metropolen wie Paris und London – als „urbanes Palimpsest“[10] mit rasch erfolgenden Über- und Umschreibungen von historischen Schichten definiert.

Mit der Neuausgabe des Berlinbandes schließt sich für den Verleger Lothar Schirmer und den Verlag ein Kreis editorischer Aktivitäten. Die fotografiehistoriografische Dimension des Unternehmens blitzt textlich nur kurz auf, doch liegt in dieser Eigenschaft womöglich der bleibende Wert dieses gewichtigen, konsequent nostalgischen Druckwerks.


[1] Miriam Paeslack (Hg.): Berlin im 19. Jahrhundert. Frühe Photographien 1850–1914, München, 2015, S. 9; Janos Frecot, Helmut Geisert: Berlin in frühen Photographien 1857–1913, München: Schirmer/Mosel 1984.

[2] Paeslack, (Anm. 1), S. 9.

[3] Karl Scheffler: Berlin: ein Stadtschicksal, Berlin: Reiss Verlag, 1910.

[4] Miriam Paeslack: Fotografie Berlin 1871–1914. Eine Untersuchung zum Darstellungswandel, den Medieneigenschaften, den Akteuren und Rezipienten von Stadtfotografie im Prozeß der Großstadtbildung, Dissertation, Heidelberg 2001.

[5] Ebenda, S. 32 „Im Einzelnen haben sich in den letzten zwanzig  Jahren zunehmend Historiker und Kunsthistoriker, auch Archivare, meist aus dem Museumsmilieu, daran gemacht, die Geschichte der Berliner Fotografie zu erforschen.“ Referenz u. a. Frecot, Geisert 1984 (s. Anm. 1). Als Beteiligter und damit „Zeitzeuge“ hat der Autor seinerzeit Auskünfte und Beratung beigesteuert.

[6] Miriam Paeslack: The State of Urban Imagery: Berlin Photography during the Second Empire, Minneapolis: University of Minnesota Press 2016/2017.

[7] Wolfgang Kemp: Theorie der Fotografie, München: Schirmer/ Mosel, Band 1 – 3, München: Schirmer/Mosel 1979-1983; erweiterte Neuauflage, hg. durch Hubertus von Amelunxen, München: Schirmer/Mosel 2000.

[8] Frecot/ Geisert, (Anm. 1), S. 11.         

[9] Manfred Smuda (Hg.): Die Großstadt als „Text“, München: Wilhelm Fink 1992.

[10] Paeslack, (Anm. 1), S. 13.

 

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