Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Patrick Rössler

Genau hingeschaut!

Die multimediale Aufbereitung der Sammlung Walther im MoMA New York

Mitra Abbaspour, Lee Ann Daffner, Maria Morris Hambourg (Hg.): Object:Photo. Modern Photographs: The Thomas Walther Collection 1909–1949, New York: The Museum of Modern Art, 2014, 30,5 x 25,4 cm, 400 S. mit 615 Vierfarb-, Fünffarb- und Duotone-Reproduktionen, geb., 75 US-$ (im europäischen Vertrieb bei Thames & Hudson)

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 136, 2015

Lang, lang ist es her, seit Thomas Walthers legendäre Sammlung von Fotografien der klassischen Moderne ihren Weg in die Bestände des Museum of Modern Art (MoMA) in New York fand. Schon 2001 ermöglichte die inzwischen übliche Konstruktion aus teilweisem Ankauf und Schenkung der übrigen Objekte, dass dieses Konvolut von insgesamt 341 Fotografien, allesamt mit ikonischem Potenzial, seine endgültige Heimstatt am Hudson fand. Über Jahre hinweg aus Auktionen, Nachlässen und Galeriebeständen mit einem sicheren Auge für das Außergewöhnliche zusammengetragen (darunter manche Stücke noch bis kurz vor der Übergabe an das MoMA), galt Walthers Kollektion immer als eine Quintessenz des Neuen Sehens in der Fotografie. Umso schmerzlicher schien es, dass sich das MoMA mit der Auswertung seines Jahrhundert-Coups Zeit ließ, viel Zeit: Erst zum letzten Jahreswechsel präsentierte man mit „Object:Photo“ einen multimedialen Dreiklang aus Ausstellung, Buchpublikation und Website, dem nicht nur die landläufigen Erschließungsarbeiten vorangingen, sondern ein ganzes Ensemble an Fachtagungen, Fellowships für renommierte Forscher und Materialanalysen. Das Ergebnis dieser durch reichlich Stiftungsgelder geförderten Aufarbeitung kann sich sehen lassen – „viel hilft viel“ stimmt in diesem Fall eindeutig.

Aber der Reihe nach. Eingeleitet von einem wissenschaftlichen Symposium eröffnete das äußerlich eher unscheinbare Museum an der 53. Straße, eine der Brutstätten der Moderne im 20. Jahrhundert, im Dezember 2014 die sehnsüchtig erwartete Schau mit den Schätzen aus der Sammlung Walther. Die bis Ende April 2015 gezeigte Präsentation war dabei – museal. Will heißen: Blatt für Blatt sauber passepartouriert im Rahmen, auf Augenhöhe vor weißer Wand, ein sich über mehrere Räume hinziehendes Band mit Inkunabeln der Fotogeschichte, nur ab und zu unterbrochen von einer kleinen Gruppierung; dazu kurze Erklärtexte und eine zurückhaltende Beschriftung, all das gediegen zu nennen wäre eine blanke Untertreibung. Man setzte mutig auf die Kraft der einzelnen Bilder, die ungeachtet ihres Entstehungskontextes als Kunstwerke von eigenem Rang behandelt wurden, ob Fotogramm oder Pressefoto.

Zumindest für den kundigen Betrachter ging diese Rechnung auf, denn was gab es nicht alles zu entdecken! Fotohistorische Schlüsselbilder natürlich allenthalben, daneben aber auch Kuriosa wie Ruges aufsehenerregende Bildreportage über seinen Fallschirmsprung mit der Kamera, an der mindestens eine weitere Person beteiligt gewesen sein musste. Insgesamt bleibt vielleicht am deutlichsten die außergewöhnliche Qualität jedes einzelnen Stückes im Gedächtnis haften. Die Abzüge sind tadellos, zuweilen sogar makellos, wozu wohl auch die konservatorische Behandlung im MoMA beigetragen haben dürfte. Beeindruckend ebenfalls die Formate – manches Motiv, das man lange zu kennen glaubt, hing hier in einem unglaublich großen Abzug, schon in der jeweiligen Zeit für Präsentationszwecke hergestellt. Das Auge von Burchartz‘ Tochter Lotte so differenziert ausbelichtet, dass man (anders als in dem Abzug aus der Sammlung Heiting des MFAH Houston) die einzelnen Sommersprossen zählen kann. Und dann an einer anderen Wand wieder die feinen, fast fragilen Abzüge von Kertesz‘ Kultmotiven: filigran die Gabel am Tellerrand, so wie Mondrians Treppenaufgang mit der einsamen Blumenvase in wunderbar tonalen, dabei bloß postkartengroßen Abzügen in ihrem warmen sepia. Eine Parade von schlichten Meisterwerken, die die Faszination der opulenten Ausstellungsabzüge wieder relativiert.

Manche Lücke in der Auswahl blieb ungefüllt, denn die Kuratoren haben der Versuchung widerstanden, den Walther-Korpus mit Beispielen der an Highlights nicht gerade armen, übrigen Fotosammlung des Hauses aufzupeppen. So verharrte die Parade von Moholy Nagys Fotogrammen ebenso in den Magazinen wie die Porträts von Man Ray; nur eine wunderbare Montage von Oskar Schlemmer und die Fallschirmspringer-Ausgabe der Zeitschrift USSR im Bau rundeten die Schau vergleichsweise unauffällig ab. Die zurückhaltende, im Grunde fast abwesende Inszenierung dieser Ikonen verlieh der Ausstellung etwas Auratisches, und dank der durchgehenden, höchstens vereinzelt einmal abfallenden Klasse der einzelnen Bilder vermissten Fotokundige auch nichts. Das breite Publikum mag das anders gesehen haben, zumal das begleitende Katalogbuch dies keineswegs auszugleichen vermag: Obwohl es die Sammlung Walther systematisch und detailliert dokumentiert, leistet es gerade keine systematische Kommentierung der einzelnen Fotos. Traditionelle Essays zur Geschichte hinter den Bildern kommen in Object:Photo zu kurz, mit Ausnahme von Ute Eskildsen kenntnisreichem Essay zu Willy Ruges Fallschirmserie.

Das seitenstarke Buch folgt einem anderen Konzept, denn es nimmt seinen Titel sehr genau: Im Mittelpunkt steht das Foto als Objekt, in seiner ganzen Materialität, von der Beschaffenheit des Papiers über die Charakteristik des einzelnen Abzugs bis zu den Beschriftungen auf der Rückseite, die von seiner Verwertungsgeschichte zeugen. Dies kann ungewöhnlich und zuweilen sperrig werden, etwa wenn Fotorestauratoren zu Wort kommen und sich über die chemischen Qualitäten einzelner Papiere äußern. Aber es ist gerade deswegen auch ungewöhnlich instruktiv, weil die Herausgeber nicht nochmal eine weitere Geschichte der Fotografie in der klassischen Moderne vorlegen, wie sie sich angesichts des Bestandes fast aufdrängt, sondern die Chance genutzt haben, einer allenthalben an Boden gewinnenden Perspektive in der Beschäftigung mit Fotografie markant Gehör zu verleihen. Wo liest man sonst akribische Vergleiche zwischen unterschiedlichen Abzügen desselben Motivs, neben der erwähnten „Lotte“ zu Arbeiten von Lerski, Citroen, Breslauer, Funke und Roh, in ihren wechselnden Tönungen? Oder eine penible Dekomposition von Lissitzkys Belichtungsmontage für sein Porträt von Kurt Schwitters?

Selbst dem Einführungstext von Maria Morris Hambourg, Senior Curator am MoMA, gelingt es als historisch orientierte Einführung nicht nur, die objektorientierte Sichtweise schlüssig zu begründen, sondern außerdem mit einer schlaglichtartigen Geschichte von Fotosammlungen und -sammlern ein lange vernachlässigtes Gebiet zu erschließen. Während Mitra Abbaspours Essay zu wichtigen Fotobüchern der Zwischenkriegszeit einen eher unbeholfenen Eindruck hinterlässt (hier sind wir seit den beiden Autopsie-Bänden von Heiting/Jaeger eine andere Tiefenschärfe gewohnt) und zu den schwächeren Beiträgen gehört, verspricht Oliver Lugons umfassende Chronik der Fotoausstellungen jener Epoche den nachhaltigsten Erkenntnisgewinn. Er entwickelt sein Narrativ als ein Netzwerk von miteinander verflochtenen Ausstellungen und lenkt den Blick auf die entscheidende Rolle von Grafik-Designern und Kunstkritikern, die nämlich – und keineswegs die Fotografen – in den Organisationsausschüssen über Auswahl und Präsentation der Bilder entschieden. Er erinnert uns beispielsweise an das Verdikt Albert Renger-Patzschs in der Winternummer der Bauhaus-Zeitschrift 1929, wonach „die stuttgarter [FiFo-]ausstellung eine blütenlese fotografischer eintagsfliegen in anspruchsvoller aufmachung“ und deren „fotos nur auf einen nenner zu bringen“ sei: „ihre mittelmäßigkeit“.

Genau das gilt für dieses Katalogbuch nicht, jenen ganzvollen Spagat zwischen akademischer Leistung und animierendem Sammlungsdokument, mit einem hochwertigen Tafelteil (dessen über den Falz gedruckten Repros freilich gewöhnungsbedürftig sind), technischem Glossar und einem vorbildlichen Register sämtlicher Fotos der Sammlung. Das zeigt alle Blätter in ihren Originalzuständen und belegt minutiös die zeitgenössischen Abdrucke ebenso wie die Provenienzen, was eine Rekonstruktion der Erwerbungsstrategie Walthers ermöglicht. So erhebt dieser 400seitige Leinenband zurecht den Anspruch, als neues Referenzwerk des Gebiets zu gelten – was das Understatement der Macher höchst sympathisch macht, keines der abgenutzten, kanonischen Motive für den Umschlag auszuwählen, sondern Käthe Steinitz‘ Lebensfreude versprühenden „Rückenschwimmerinnen“.

Der eigentliche große Wurf ist dem MoMA-Team freilich mit der multimedialen Website zum Projekt (http://www.moma.org/interactives/objectphoto) gelungen: Hier finden sich nicht nur alle (!) Essays der am Projekt beteiligten Wissenschaftler als frei zugängliche pdf-Dateien (mit Ausnahme der drei einführenden Beiträge der Buchherausgeber), sondern weitere Aufsätze etwa zu Edward Weston, Cesar Domela, Franz Roh, Weegee und vielen Einzelthemen. Aus der Datenbank der Sammlung-Walther lassen sich alle Motive nicht nur in einer Galerieansicht abrufen, sondern nach Künstlern sortieren und anhand verschiedener geographischer Zentren anordnen. Ein materialorientierter Bereich erläutert zentrale Begriffe und Analysemethoden, während die Möglichkeiten des interaktiven Mediums am deutlichsten von den verschiedenen Animationen genutzt werden, die die Seite bereithält: Primär auf einer geographischen Verortung aufbauend, können hier Netzwerke von Fotografen, Bilder und biographische Entwicklungen dynamisch in ihrer Entwicklung im Zeitverlauf betrachtet oder nach Motivgruppen sortiert werden.

Spielereien? Nein, vielmehr neue Analyseinstrumente, die in den „Digital Humanities“ zum State of the Art gehören und auf dieser (im Wesentlichen durch die Fördergelder der Mellon Foundation ermöglichten) Website auch für die fotohistorische Forschung fruchtbar gemacht werden. Es ist richtig, wir mussten lange warten auf diese Präsentation der Sammlung Walther durch das MoMA. Aber dieses Warten hat sich gelohnt, denn das Ergebnis setzt auf allen Ebenen Maßstäbe im wissenschaftlichen Umgang mit klassischer Fotografie – und bleibt dabei für die Etats anderer Einrichtungen mittelfristig wohl unerreichbar.

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