Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Suggestive Porträts

Hans Casparius: Von der Kamera berührt. Menschen, Gesichter, Gefühle, hg. von Wolfgang Jacobson, München: etition text+kritik, 2014, 144 S, 23 x 21,5 cm, zahlreiche Abb. in S/W, kartoniert, 28 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte, Heft 136, 2015

Es ist gut dass dieses Buch erscheint. Ruft es doch in Bildern und dazwischengeschobenen kurzen Auszügen aus zeitgenössischen Texten – einen großen deutschen Fotografen des 20. Jahrhunderts in Erinnerung, der Ende der 1970er Jahre für kurze Zeit aus der Vergessenheit auftauchte und dann wieder jahrzehntelang aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand. Und doch ist es schade, dass es in dieser Form erscheint. Wieso? Weil es nur einen schmalen Ausschnitt des umfangreichen Werkes von Hans Casparius (1900–1986) vorstellt, aber ein wenig so tut, als handle es sich um eine repräsentative Auswahl (zumindest für die Jahre Anfang der 1930er Jahre). Casparius war, anders als das Buch suggeriert, keineswegs nur ein Film- und Porträtfotograf, sondern, und das zeigt der Band kaum bis gar nicht, ein hervorragender Fotoreporter, der zahlreiche Reportagen zusammenstellte, ein Stadt-, Architektur- und Landschaftsfotograf, aber auch ein Sport- und Theaterfotograf. In seiner zweiten Berufskarriere in England wandte er sich dann der Werbung und dem Film zu. Zudem ist fast alles, was wir in dieser Publikation über den Fotografen, sein Werk und den Kontext seiner Arbeit erfahren, schon bekannt, eben seit den 1970er Jahren. Der Herausgeber Wolfgang Jacobson hat es leider verabsäumt, wesentliche neue Recherchen und Forschungen zum Fotografen Hans Casparius anzustellen (mit Ausnahme einiger Details zur Geschichte der Familie Casparius und zu seinem Berliner Foto- und Filmatelier, das kurzzeitig um 1930 führte). In Nachwort lässt sich der Herausgeber zwar von den suggestiven Porträts des Fotografen anstecken und treiben, er bleibt aber in seinen Beschreibungen an den Oberflächen der Bilder- Wirklich näher kommt er in diesen Ausführungen dem Fotografen aber nicht.

Wer war nun Hans Casparius? Geboren 1900 in gutbürgerlichen Berliner Verhältnissen, hätte er ein gut abgesichertes Leben führen können. Sein Vater, ein wohlhabender Textilhändler jüdischer Herkunft, wollte dass der Sohn in das väterliche Unternehmen eintritt. Aber es kam anders. Nach kurzer Lehrzeit im kaufmännischen Leben verweigerte der Sohn die Fußstapfen seines Vaters. Casparius suchte Fluchtwege aus dem festgefügten bürgerlichen Alltag – und fand sie in der Berliner Künstlerszene der 1920er Jahre. Er führte ein lockeres Leben, trieb sich im Nachtleben herum und wurde Filmschauspieler. In mehreren Filmen, u.a. in der „Weißen Hölle vom Piz Palü“ (Regie Arnold Fanck), im „Tagebuch einer Verlorenen“ (Regie: G.W. Pabst) und in der „Büchse der Pandora“ (Regie: G.W. Pabst), trat er in Nebenrollen auf. Mit G.W. Pabst freundete er sich an. Neben der Schauspielerei begann er am Filmset zu fotografieren. Besonders fasziniert war er von den Dreharbeiten zu Pabsts Film „Dreigroschenoper“ (1930). In der Zeitschrift Film-Kurier aus dem Jahr 1931 schreibt Casparius: „Kaum je bot mir ein anderer Film eine derartige Menge herrlichsten Materials. Mein Apparat kam kaum zur Ruhe und ist von mir bisher noch niemals so angestrengt worden wie in jener Zeit. 80 bis 100 Aufnahmen gab es an manchen Tagen. Wohin man blickte: Motive, Licht- und Schattenwirkungen.“ Mit seinen Filmaufnahmen hatte er bald Erfolg.

1930 hängte Casparius die Schauspielerei an den Nagel und unternahm mit dem Wiener Arnold Höllriegel (Richard A. Bermann), dem Korrespondenten des Berliner Tageblatts, den er in Berlin kennengelernt hat, eine dreimonatige Afrikareise, von der er 2.500 Abzüge mitbrachte. Höllriegel war es auch, der Casparius 1932 in Wien Arbeit als Pressefotograf und Fotoarchivar für die neugegründete Zeitschrift Jedermann verschaffte. Einige Jahre verbrachte Casparius in Wien, mit einem Fuß blieb er aber in Berlin, wo er ein Atelier für Fotografie und Film unterhielt. Immer wieder brach er Anfang der 1930er Jahre aus dem festgefügten Arbeitsalltag aus und ging, meist zusammen mit Höllriegel, auf längere Reisen. 1931 bereisten die beiden die USA und Kanada. Anfang 1933 begleitete Casparius und Höllriegel Ladislaus Almásy auf seiner Expedition in die libysche Wüste auf der Suche nach der sagenumwobenen Oase Zarzura. Ein Jahr später, Anfang 1934, reiste Casparius zusammen mit dem Wiener Journalisten und Theaterregisseur Arthur Rundt im Auftrag des Wiener E.P. Tal Verlags nach Palästina. Daraus ging im selben Jahr das Palästina-Bilder-Buch hervor, das ein dynamisches, durch starke jüdische Zuwanderung geprägtes Land unter britischer Hoheit zeigt.[1]

Die vorliegende Publikation beschränkt sich – ohne rechte Begründung – auf die Zeit von 1929 bis 1934 und stellt vorwiegend eng angeschnittene Porträts vor, auch wenn das Umschlagbild aus dem Jahr 1931, das einen kanadischen Indianer auf seinem Pferd zeigt, in eine andere Richtung deutet. Casparius war zweifellos ein Meister des Porträts. Die Liste der Fotografierten liest sich wie ein who is who der Film- und Kulturszene um 1930: Louise Brooks, Ernö Metzner, Kenneth MacPherson, Leni Riefenstahl, Claire Bauroff, Andrea Manga Bell, Luis Trenker, Arnold Höllriegel, Ladislaus Eduard von Almasy,  G.W. Pabst, Valeska Gert, Ernst Busch, Lotte Lenya, Sigmund Freud,  Hanns Sachs, Elisabeth Bergner, Peter Lorre, Leo Baeck, Jean Gabin, Theo Lingen, Asta Nielsen, Leo Slezak und viele andere. Zahlreiche dieser Aufnahmen entstanden um 1930 tatsächlich bei oder am Rande von Filmarbeiten, andere zeigen Freunde und Bekannte des Fotografen. Einige Bilder sind Auftragsarbeiten wie etwa das bekannte Fotoporträt von Sigmund Freud, das Casparius 1933 aufnahm. Der Herausgeber reduziert Casparius im wesentlichen auf einen Porträt- und Filmfotografen, eingestreut sind einige wenige Bilder, die Straßenszenen in Berlin, New York und London zeigen und einige wenige Bilder, die während einer Palästina-Reise 1934 entstanden. Nicht erwähnt, geschweige denn genauer untersucht werden die zahlreichen veröffentlichten Reisereportagen (u.a. Kanada, USA, England, Palästina), die in der ersten Hälfte der 1930er Jahre in deutschen, österreichischen, aber auch in französischen (z.B. Paris-Soir) und englischen (z.B. Illustratend London News) Zeitungen und Illustrierten erschienen (und die teilweise, etwa im Fall der Expedition von Ladislaus Almásy zur Oase Zarzura, aus anderer Perspektive gut untersucht sind), aber auch Landschaftsbilder, Stadtaufnahmen (u.a. wunderbare New York-Bilder aus dem Jahr 1931 oder eine Reportage vom berühmten Caledonian Market in London, 1933), Sozialreportagen (etwa über Zigeuner im Burgenland, 1932), Sportaufnahmen und Theaterbilder (etwa von den Salzburger Festspielen, 1934). Aber auch biografische Zusammenhänge, etwa der Kontakt zur 1927 von Kenneth Macpherson (den Casparius fotografierte) und der amerikanischen Schriftstellerin Hilda Doolittle gegründeten in der Schweiz erscheinenden Avantgarde-Filmzeitschrift Close up, in deren Auftrag Casparius 1933 Sigmund Freud fotografierte, sind nicht ausgeführt. Überhaupt vermittelt das Buch den falschen Eindruck, Casparius habe weitgehend im luftleeren Raum gearbeitet. Hinweise auf Auftraggeber seiner Bilder fehlen ebenso wie eine genauere Auseinandersetzung mit dem publizistischen Umfeld (Zeitungen, Magazine, Zeitschriften), in dem Casparius sich bewegte.

Ausgespart ist, bis auf ein paar dürre Details im tabellarischen Lebenslauf am Ende des Buches, auch der weitere Weg des Fotografen. Dieser ging 1935 nach London, eröffnete dort mitten im Krieg ein Atelier für Farbfotografie, arbeitete als Fotograf und Kurator an der patriotischen Ausstellung „Rebuilding Britain“ mit, fotografierte zwischen durch für die tschechische Exilregierung und spezialisierte sich nach dem Krieg auf Sach- und Werbefotografie und auf den Dokumentar- und Werbefilm (u.a. für die Fluggesellschaft Lufthansa). Casparius starb 1986 in London.

Die Rezeption des Fotograf ist bisher von einige wenigen recht mangelhaften Publikationen geprägt, die ein sehr einseitiges, eingeschränktes Bild entwerfen. 1977, noch zu Lebzeiten des Fotografen, übernahm die Deutsche Kinemathek in Berlin die Fotosammlung von Hans Casparius, weil darin wichtige Aspekte der deutschen Filmgeschichte um 1930 festgehalten sind. Ein Jahr später wurde von der Stiftung Deutsche Kinemathek unter dem Titel „Photo: Casparius“ in Berlin eine umfangreiche Ausstellung inklusive Katalog zusammengestellt. Im Katalog stellte Hans Feld Casparius als Fotografen vor („Hans Casparius – der Mann mit den drei Augen“). Dieses Berliner Projekt stellte vor allem den Filmfotografen in den Mittelpunkt und prägte fortan das Bild von Hans Casparius als Filmfotografen.[2] Das breite fotografischen Schaffen, das ebenfalls mit Casparius  verbunden ist, wurde auf diese Weise ausgeblendet.

1986, kurz nach Casparius’ Tod, erschien in England die (auf Vorarbeiten des Filmkritikers Hans Feld beruhende) Autobiografie In my life. A pictorial Memoir, mit einer Einführung von Silvia Beamish. Das Buch liefert zwar einige wichtige biografische Details und zeigt auch einige wenige Fotos aus der englischen Zeit des Fotografen, aber es krankt daran, dass die Bearbeiterin S. Beamish (die von Fotografie offenbar nicht viel Ahnung hat) den Erinnerungen des alten Mannes allzu blauäugig folgt und keine eigenen zusätzlichen Recherchen anstellt. Auch Quellenangaben suchen wir in diesem Buch vergebens. Im deutschen Sprachraum wurde diese Publikation ohnehin nicht rezipiert.

Ab den 1980er Jahren wurde es dann für lange Zeit still um Hans Casparius. Erst 2012 wurde sein fotografisches Werk erstmals wieder vorgestellt, freilich nur als eine Art illustrative Beigabe zu einem Band der von Michael Grisko im Auftrag des Deutschen Exilarchivs initiierten Neuausgabe der Texte und Reisereportagen von Arnold Höllriegel.[3] Nach 37 Jahren erscheint nun wiederum ein Buch, das sich explizit mit dem Fotografen Casparius auseinandersetzt. Es ist schade, dass im vorliegenden Band die Chance auf eine fundierte, breite Darstellung dieses fotografischen Werkes vergeben wurde.


[1]Das Palästina-Bilder-Buch. 96 Photographien von Hans Casparius. Vorwort und Text zu den Bildern von Arthur Rundt, Wien, E.P. Tal & Co. Verlag 1934.

 [2]Photo: Casparius. Filmgeschichte in Bildern/Berlin um 1930/Auf Reisen, hg. von Hans-Jürgen Boch, Jürgen Berger, Stiftung Deutsche Kinemathek, Katalog zur Ausstellung in der Staatlichen Kunsthalle Berlin, Berlin 1978.

[3] Arnold Höllriegel: Amerika-Bilderbuch. Mit Fotografien von Hans G. Casparius, hg. von Michael Grisko im Auftrag des Deutschen Exilarchivs, Göttingen 2012.

 

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