Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

Fotografie, Orientalismus, Politik

Ali Behdad, Luke Gartlan (Hg.): Photography’s Orientalism. New Essays on Colonial Representation, Los Angeles: Getty Research Institute (Issues and Debates), 2013, 214 S., 25,5 x 18 cm, zahlreiche Abb. in S/W und Farbe, kartoniert, 35 Dollar

Erschienen in: Fotogeschichte 132, 2014

Man muss im vorliegenden Buch lange blättern, bis der eigentliche Anlass der Publikation ausführlicher zur Sprache kommt. Nancy Micklewright stellt in ihrem Beitrag beispielhaft fünf Fotografien aus dem Osmanischen Reich, aufgenommen im letzten Drittel des 19. Jahrhundert, vor. Einleitend erwähnt sie, dass der Ankauf einer größeren Fotosammlung durch das Getty Research Institute (GRI) in Los Angeles im Jahr 2008 zur Bildung einer Forschergruppe und eines mehrjährigen Workshops geführt hat. Angekauft wurde damals die private „orientalistische“ Fotosammlung des Sammlerpaares Ken und Jenny Jacobson. Diese Sammlung ergänzte ein 1996 vom GRI erworbenes privates  Fotoarchiv, das vom Sammler Pierre de Gigord zusammengetragen worden war. Die Jacobson-Sammlung umfasst rund 4.500 Aufnahmen, jene von Gigord rund 6.000 Bilder. Zu beiden Kollektionen liegt eine Darstellung in Buchform vor.[1] Durch diese beiden Ankäufe war im Getty Research Institut innerhalb weniger Jahre ein bedeutender Sammlungsschwerpunkt zur orientalistischen Fotografie entstanden. Und damit das Bedürfnis, das Thema von Fotografie und Orientalismus einer fundierten Expertendiskussion zu unterziehen. Der mehrjährige interdisziplinäre Workshop schloss 2010 mit einer Tagung ab.[2] Einige der Beiträge im vorliegenden Sammelband gehen auf diese Veranstaltung zurück. Erst wenn man diese Hintergründe kennt, versteht man, dass ein Großteil der diskutierten Bildbeispiele aus der Fotosammlung des GRI stammt.

Um das Fazit vorwegzunehmen: Die Publikation bietet eine ausgezeichnete Einführung in die theoretischen und fotohistorischen Debatten, die in den letzten Jahren zum Thema „Orientalismus“ geführt wurden. Sie krankt aber auch an einer Eigenheit, die viele Sammelbände kennzeichnet: Themen und Zugänge sind überaus heterogen um nicht zu sagen ohne jede Verbindung zueinander. Auf diese Weise werden den Lesern oft große Sprünge abverlangt. Ein guter Index hilft allerdings dabei, gezielt nach Themen und Personen zu suchen.

Besonders empfehlens- und lesenswert sind jene Beiträge im Band, die neue, bisher kaum bekannte Fotobestände untersuchen. Einen Schwerpunkt bilden etwa Texte, die die – im Westen bisher wenig diskutierte – Fotografie des Osmanischen Reiches einer Neuinterpretation unterziehen (Nancy Micklewright, Esra Akcan, Mary Roberts). Vorgestellt werden etwa Beispiele repräsentativer (aber auch privater) osmanischer Fotografie, die abseits westlicher Wahrnehmungsschemata eigenständige, teilweise explizit gegen den kolonialen Westen gerichtete Darstellungsformen (etwa im offiziellen Porträt oder in der Landschaftsdarstellung) etablieren. Die Autoren hinterfragen die angebliche Dichotomie zwischen dem aktiven kolonialen Blick und passiven visuellen Ausgeliefertsein der einheimischen Bevölkerung.

Ein weiterer ausgezeichneter Beitrag stammt vom Mitherausgeber Luke Gartlan, der in der angloamerikanischen und französischen Diskussion ein wenig bekanntes Beispiel der Orient-Fotografie untersucht. Er beschäftigt sich mit dem Ägyptenaufenthalt einer Gruppe deutscher und österreichischer Künstler im Jahr 1875/1876, die von einem österreichischen in Kairo lebenden Fotografen, Ludwig Steiner, mit der Kamera dokumentiert wurde. Dabei beschränkt Gartlan sich nicht auf die Identifizierung bekannter kolonialer Blickweisen, sondern bringt das kollektive Reise- und Fotoexperiment mit homoerotischen Mustern der Selbstdarstellung und erotischen Mustern der Fremddarstellung (etwa in Fotos von nackten und halbnackten Prostituierten) in Verbindung. Er zeigt darüber hinaus, wie sehr die fotografische Aneignung des „Orients“ mit anderen kulturellen Praktiken, etwa der (Reise-)Literatur, der Grafik, Malerei und sogar der Karikatur zusammenhängt. Der Autor betont, dass zum Verständnis der orientalistischen Fotografie ein Blick hinter die Kulissen der zeitgenössischen Gesellschaft sowie eine Analyse der – oft kollektiven – Reiseerfahrungen notwendig ist.

Wer sich einen guten Überblick über die vergangenen und aktuellen Debatten im Bereich der Orient-Fotografie verschaffen will, findet in der Einleitung der beiden Herausgeber des Bandes, Ali Behdad und Luke Gartlan sowie im ausgezeichneten Eröffnungsaufsatz von Ali Behdad zahlreiche Anregungen. Die Autoren umreißen kenntnisreich das Feld der Debatte und zeigen, wie sehr sich in den letzten Jahren Zugänge und theoretische Instrumentarien im Umgang mit der Orient-Fotografie verändert haben. Als weitaus wichtigsten intellektuellen Protagonisten identifizieren sie Edward Said, der mit seinem 1978 erscheinen Band Orientalism eine kritische Revision der Orientdarstellungen (v.a. in der Literatur) angestoßen hatte. Nach einer Blütezeit seiner Theorie, die auch Auswirkungen auf die kritische Fotoforschung hatte (zu nennen sind etwa Malek Alloula oder Julia Ballerini) schlug in den letzten Jahren das Pendel in die Gegenrichtung aus (etwa durch die Beiträge von Michelle L. Woodward). Die Kritiker des Orientalismus-Begriffs argumentieren, dass die orientalistischen Zugänge vorschnell eine Verbindung von politischer Macht bzw. Unterdrückung einerseits und künstlerischer Praxis andererseits identifizierten. Die Gegner der Saidschen Orientalismus-These forderten, künstlerische bzw. visuelle Hervorbringungen als von Politik- und Machtfragen weithin unabhängig zu sehen und den Fokus stärker auf Fragen der Ästhetik zu richten.

Im vorliegenden Band wird diese Abwendung der Orientforschung von Fragen der Politik und Gesellschaft von den Herausgebern kritisiert – wie ich meine, vollkommen zu Recht. Sie knüpfen bewusst an die Sichtweise Saids an, dessen politisch-gesellschaftliche Leitfragen nach wie vor aktuell seien. Zugleich aber erweitern und differenzieren sie die Untersuchungskriterien. Orientalismus, so argumentieren sie, sei nach wie vor ein brauchbares Konzept, freilich nur dann, wenn die holzschnittartige Gegenüberstellung von Macht und Ohnmacht, von westlichem Kolonialismus und einheimischem Erdulden, von aktiv und passiv überwunden wird. Sie plädieren daher für eine neue Sichtweise auf die orientalistische Fotografie, die Politik, Ästhetik und Ökonomie nicht getrennt verhandelt, sondern diese Kategorien bewusst zusammenführt und die alten schematischen Gegenüberstellungen in multipolaren Netzwerken (mit vielfältigen Interdependenzen) auflöst.

Besonderes Augenmerk schenkt Ali Behdad in seinem Beitrag „The orientalist photograph“ der gesellschaftspolitischen (und nicht rein ästhetischen) Analyse von Fotos. Gemeint sind damit Fragen der medialen Weitergabe und kulturellen Zirkulation von Bildern. Eine derart ausdifferenzierte orientalistische Fotoanalyse führt dazu, das Bild des isolierten Einzelkünstlers, wie es in Ausstellungen gern präsentiert wird, zu hinterfragen. Statt dessen sollte, so Behdad, die Fotografie viel stärker darauf hin befragt werden, innerhalb welcher gesellschaftlichen Formen sie hervorgebracht wurde (etwa im Kontext von Tourismus, Reise, Inszenierung von Herrschaft, Pornografie etc.), in welchen medialen Formen sie zirkulierte (Alben, Bücher, Postkarten etc.) und welche Interessen an die Überlieferung geknüpft waren und sind (private oder öffentliche, einheimische oder westliche Archive, die Rolle der Sammler, Museen etc.). Im Grunde fordert Behdad, der Literaturwissenschaftler und nicht Foto- oder Kunsthistoriker ist, eine Repolitisierung der orientalistischen Fotoforschung.

In dieselbe Kerbe schlägt auch der abschließende Beitrag von John Tagg, der mit seiner Kritik einer großen Ausstellung von Indienfotografien im Metropolitan Museum of Art in New York, die im Jahr 2007 stattfand, das Thema der Orient-Fotografie im mittleren Osten ein stückweit verlässt. Er kritisiert, dass die gefällige museale Präsentation brisante politisch-gesellschaftliche Fragen (etwa nach dem Anteil kolonialer Gewalt und Gegengewalt) systematisch ausschließt. Die Texte dieses Bandes plädieren hingegen dafür, Fotografie und Politik nicht zu trennen, sondern in Analyse und öffentlicher Präsentation auf produktive Weise zusammenzuführen.


[1] Catherine Pinguet, Pierre de Gigord, Daniel Rondeau: Istanbul, photographes et sultans 1840–1900, Paris 2012. Ken Jacobson: Odalisques & Arabesques. Orientalist photography 1839–1925, London 2007.

[2] Die Tagung trug den Titel: Zoom out. The making and unmaking of he „Orient“ through photography, Los Angeles, Getty Research Institute, 6. und 7. Mai 2010.

 

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