Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Patrick Rössler

Agenten, Agenturen, Amateure, Alltägliches. Zur Distribution gedruckter Bilder

Annelie Ramsbrock, Annette Vowinckel, Malte Zierenberg (Hg.): Fotografien im 20. Jahrhundert. Verbreitung und Vermittlung, Göttingen: Wallstein, 2013 (Geschichte der Gegenwart 6), 23 x 14,5 cm, 301 S., einige Abb. in S/W, geb., 29,90 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte 131, 2014

Das Selbstverständliche zuerst: Noch immer ist die Forschungsanlage zur medialen Verwertung von Fotografien so dürr, dass jede neue wissenschaftliche Auseinandersetzung mehr als willkommen ist. Und genauso scheint es unvermeidlich, dass auch zu diesem Thema kompilierte Bände oft heterogen wirken – zumal, wenn sie auf eine Tagung („Bilder im 20. Jahrhundert: Institutionen, Agenten, Nahaufnahmen“, Berlin 2010) zurückgehen. Die Herausgeber des mit Fotografien im 20. Jahrhundert fast schon breitest möglich betitelten Sammelbandes arbeiten im Umfeld der Humboldt-Universität Berlin und des Zentrums für zeithistorische Forschung in Potsdam, und deshalb sind es auch weit überwiegend Historiker, die zu Wort kommen. Über die – jenseits der Tagung akquirierten – Ausnahmen sei zuerst gesprochen; unterstellt, dass Sammelwerke primär nach dem Gehalt ihrer Einzelbeiträge beurteilt werden sollten und weniger anhand ihrer meist nur lockeren thematischen Klammer. Die erweist sich hier mit der Perspektive auf „Verbreitung und Vermittlung“ von Fotografie zwar alles andere als beliebig, aber immer noch so lose, dass ein bunter Strauß von elf bestenfalls vage aufeinander bezogenen Aufsätzen darin ihren Platz findet.

Nicht nur ihres Umfangs wegen nimmt Ulrich Kellers fast fünfzigseitige Abhandlung zum „Triumph der Bildreportage im Medienwettbewerb der Zwischenkriegszeit“ einen prominenten Platz ein. Als einziger Fotohistoriker im engeren Sinne und von Santa Barbara aus arbeitender Doyen der Disziplin entwirft er ein reichhaltig illustriertes Panoptikum der Fotopublizistik jener Epoche im internationalen Vergleich, das (wie er uns informiert) von einem dreiwöchigen Forschungsaufenthalt am Getty Research Institute in Los Angeles profitierte. Dies erklärt vielleicht eine auffällige, gleichwohl verbreitete Schieflage auch in seiner Beweisführung: nämlich die zwar höchst instruktive, aber zugleich unsystematische Selektion der Bildbeispiele. Für seine inhaltlich durchaus nachvollziehbaren Beobachtungen wählt er jeweils passende Abbildungen aus einem nicht näher definierten Materialkorpus aus (lt. einer Anmerkung vermutlich die am GRI verfügbaren Illustriertenbände), was dem Leser natürlich keine Einschätzung erlaubt, ob und wie charakteristisch die vorgelegten Beispiele sind.

Trotz des breit gefassten Anspruchs findet sich in dem lesenswerten Aufsatz leider kein Hinweis auf die für die Entwicklung des Genres immens wichtigen Heftmagazine, die seit einiger Zeit in breitem Umfang digital verfügbar sind (www.illustrierte-presse.de). Reproduktionen aus deutschen Zeitungsillustrierten konzentrieren sich bei Keller auf Lorants wohlbekannte Münchner Illustrierte Presse, den Illustrierten Beobachter oder die Arbeiter-Illustrierte Zeitung, was den Stellenwert etwa der Hamburger Illustrierten (bzgl. der Druckqualität) oder des Frankfurter Illustrierten Blatts (als Vorreiter des „Neuen Sehens“) vernachlässigt. Und die auflagenstarken Bildbeilagen der Tageszeitungen werden bei einer Gelegenheit illustrativ berücksichtigt (Bilder-Courier, Berlin), ohne auf die spezielle mediale Konstellation dieser oft übersehenen Quelle für Bildpublizistik hinzuweisen. Dennoch gelingt Keller ein brillant formulierter Parforceritt durch seine Bilderwelten, aus dessen einzelnen Thesen gerade zur politischen Dimension der Fotoverwendung sich genügend Fragestellungen für einen eigenen Sammelband ableiten ließen. Nur schade, dass er wichtige Präzisierungen, die gegen weit verbreitete, aber primär von interessierten Kreisen lancierte Mythen (so etwa die von Gidal behauptete „Erfindung“ der Fotoreportage Ende der 1920er Jahre oder die vermeintliche Vorreiterrolle der französischen Vu) argumentieren, lediglich in einer Fußnote versteckt.

Kaum gegensätzlicher könnte der Beitrag des zweiten Fotografieexperten in der Runde, Rolf Sachsse, ausfallen, der sich auf gerade zwölf Seiten über die Ikonik der „jungen Bundesrepublik“ äußert. Kaum verwunderlich identifiziert er seinen konzisen Überblick als lediglich „erste Hinweise auf eine noch zu schreibende Historiografie des bundesdeutschen Bildjournalismus“ (S. 91), die ganz zweifellos ein bedauerliches Forschungsdesiderat darstellt. Sein Themenaufriss, der primär die bedeutsamen Protagonisten mit ihren Lebensdaten auflistet und sie innerhalb von fotografischen Positionen und Tendenzen verortet, aber (vermutlich aus gutem Grund) ohne eine einzige Abbildung auskommt, liest sich fast schon wie ein Antrag auf Realisierung eines umfassenden Studienprogramms. Dabei zeigt seine Beobachtung, wonach zu manchem Schlüsselereignis aus der Vergangenheit unserer Republik gerade nicht das erwartbare Schlüsselbild existiert, nur einen interessanten Ansatzpunkt an für weitere Tiefenbohrungen in der „Gemengelage“ aus gesellschaftliche Geschehen und Bildproduktion. Eine mögliche Analyse liefert Kathrin Fahlenbach direkt nach, und zwar zu der Bildpublizistik während der 1968er Revolte: Gerade weil sie ihr Konzept der Medienikone ausführlich herleitet, gewinnen ihre fünf kurzen Fallstudien an Plastizität – umso bedauerlicher, dass auch diesen Beitrag nicht eine einzige Bildbeigabe schmückt, weder den sterbenden Benno Ohnesorg noch die nackten Kommunarden vor der Wand (obwohl beides urheberrechtlich wohl als erlaubtes Bildzitat gelten müsste).

Die acht übrigen Beiträge zeichnet ein eher (kultur-)historischer Zugang aus, der Fotografie und insbesondere die Verbreitung fotografischer Bilder aus unterschiedlichen Perspektiven kontextualisiert. Das eigentliche Thema des Bandes findet sich in den Erörterungen damit weniger direkt adressiert, weshalb die Studien zur Bildpolitik der Deutschen Kolonialgesellschaft (Jens Jäger) und zur Freundschaft als zentraler Kategorie für die DDR-Amateurfotografie (Marline Otte) eher zum fotogeschichtlichen Hintergrundwissen beitragen dürften. Die Spurensuche nach dem Ursprung des Konstrukts vom Recht am eigenen Bild (Monika Dommann) verdeutlicht, wie sehr unsere Grenzziehung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit das Ergebnis eines sozialen Aushandlungsprozesses ist. Den deutlichsten Nachhall hinterlässt wohl Annelie Ramsbrocks Rekonstruktion der Bildquellen für Ernst Friedrichs Krieg dem Kriege!, einem Meilenstein derpazifistischen Bewegung weltweit.

Aufgrund ihres Themas – Agenturen (Malte Zierenberg) bzw. Bildredakteure (Annette Vowinckel) – wecken die beiden eher berufs- bzw. organisationssoziologisch klingenden Zugänge die Hoffnung, es gäbe neue Evidenzen zur organisierten Bildproduktion und professionellen Bildverbreitung. Leider kann keiner dieser Herausgeberbeiträge mit neuen Erkenntnissen im größeren Stil aufwarten, wie sie sich vielleicht aus intensiven Archivrecherchen gewinnen ließen, denn beide Texte beruhen im wesentlichen auf einer Zusammenschau einschlägiger Fundstellen in der bekannten Forschungsliteratur, woran auch ihre diskursanalytische Interpretation wenig zu ändern vermag. Für Diskussionsstoff im positiven Sinne sorgen hingegen die beiden methodisch ungewöhnlichsten Untersuchungen des Bandes: Christian Geulen verfolgt den „stumpfen Sinn“ (ein Konstrukt von Roland Barthes) der Omaha-Beach-Reportage Robert Capas in Kinofilmen, Fernsehdokumentationen und zuletzt dem Computerspiel – eine innovative Sicht auf den globalen Medienverbund, der sich in ganz unterschiedlicher Weise auch unseres visuellen Erbes bemächtigt. Ganz dicht beim fotografischen Bild sind dann wieder Linda Conze, Ulrich Prehn und Michael Wildt, die Privatfotografien aus der NS-Zeit zum Anlass fast schon ethnografisch zu nennender Recherchen nehmen. Ihre drei Fallstudien belegen, wie sich Fotos auch als Quellen für Alltagsgeschichte lesen lassen, womit der Band wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt: In ihrem Vorwort hatten die Herausgeber nämlich als primäres Ziel formuliert, die Auseinandersetzung mit Bildern in der Geschichtswissenschaft zu befruchten. Dies sollte ihnen trefflich gelungen sein.

P.S.: An ein schludriges Lektorat von Fachbüchern mit diversen Tipp- und Interpunktionsfehlern hat man sich heute ja schon fast gewöhnt, angesichts des Kostendrucks, den die Verlage an die Autoren weitergeben (müssen). Dass aber gerade wissenschaftliche Beiträge, die sich intensiv mit der Fotografie und ihren Verbreitungswegen auseinandersetzen, ohne den Abdruck von Bildmaterial erscheinen (und das gilt immerhin für fünf der elf Aufsätze!), ist entweder eine grobe Missachtung des Publikumsinteresses oder (wahrscheinlicher) eine Konsequenz der unsicheren Lage im Urheberrecht, der schnellst möglich abgeholfen werden muss. Wenn ein wissenschaftlicher Diskurs über Bilder geführt wird, muss es selbstverständlich möglich sein, die fraglichen Bilder auch zu zeigen – alles andere wäre forschungsfeindlich.

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