Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Bernd Stiegler

Das Terrain der Fotografie

Timm Starl: Kritik der Fotografie, Marburg: Jonas Verlag, 2012,  24,4 x 17,6 x 2,2 cm, 320 S., mit zahlreichen z.T. vierfarbigen Abbildungen, 30 Euro

Erschienen in: Fotogeschichte 128, 2013

Viele Leserinnen und Leser der Fotogeschichte werden das neue, schön aufgemachte und durchgehend vierfarbig illustrierte Buch von Timm Starl bereits kennen, ist es doch über viele Jahre hinweg als eine Art ABC der Fotografie in Fortsetzungen im Netz erschienen. Auch nach der Buchveröffentlichung hat sich daran dankenswerter Weise nichts geändert. Es ist nach wie vor unter www.kritik-der-fotografie.at abrufbar und wird vielleicht dort auch weitere Fortsetzungen erfahren, ist es doch ein strukturell offenes Projekt. Die überzeugende Organisation des Buches in Gestalt von alphabetisch geordneten Einträgen unterschiedlicher Länge und Dichte trägt dieser Offenheit Rechnung, auch wenn die Einleitung sie ein wenig dementiert. Dort wird die Latte ungleich höher gelegt und der Anspruch der dann folgenden Einträge recht offensiv formuliert: Es solle, so Timm Starl, um die "Ermittlung der konstitutiven Merkmale des Fotografischen" (S. 9) gehen und somit eine nachgerade ontologische Frage aufgeworfen werden. In diesem Sinne verbirgt sich hinter dem hintersinnigen Titel "Kritik der Fotografie" die grundlegende Frage "Was ist Fotografie?" Die Antworten, die Timm Starl dann aber gibt, folgen jedoch eher der Leitschnur einer praxeologischen Deutung der Fotografie, einer Bildpragmatik, die Bedeutung weniger über Ontologie als diese über ihre Funktion und ihre Gebrauchsweisen zu erschließen sucht. Dementsprechend werden – durchaus im Einklang mit aktuellen Debatten in den Bildwissenschaften und den Visual Culture Studies – Fotografien als "eigenständige Formulierungen" aufgefasst, die nicht auf Sprache und Texte zu reduzieren seien.

Will man nun das Buch und auch die Website ihrerseits einer Kritik unterziehen – und das ist letztlich die Aufgabe einer Rezension –, so bietet das Buch die besten Argumente gegen die eigenen Vorgaben. Es ist einerseits, wenn man die Vorgabe, eine "Bestimmung des Fotografischen, also eine Theorie der Fotografie" (S. 10) zu schreiben, ernst nimmt, grandios gescheitert, andererseits aber schlicht brillant, von stupendem Kenntnisreichtum und einer wunderbaren Fülle von Material in Bild und Text. Während die Einleitung nach Abstraktion, Einschränkung und ontologischer Präzisierung ruft oder zumindest mit diesem Gedanken spielt, indem sie die philosophische und fotografiehistorische Tradition aufruft, blättert das Buch in seinen anschaulichen und durchweg wunderschön geschriebenen Einträgen ihre irreduzible Pluralität auf. Oder anders formuliert: Während die Vorgabe eine theoretische wie historisch-praktische Kartierung des Fotografischen zu sein scheint, überwuchert das Material fortwährend die gerade gezogenen Linien und lässt dabei wunderschöne Blüten sprießen.

Sucht man nach einem Wahlverwandten dieser besonderen Theorieform, so bietet sich Walter Benjamin an, der im Text recht häufig zitiert wird und in Stil und Gedankenform Timm Starls Kritik der Fotografie ähnelt. Es sind letztlich Denkbilder im besten Sinn des Wortes, die Starl gezeichnet hat und in der Doppelgestalt von Text und Bild, von theoretischer und fotografischer Anschauung ihren Gegenstand entstehen lassen. Viele der Beispiele Starls teilen Benjamins Theorie und Sammel-Leidenschaften: von der Briefmarkensammlung über die Melancholie bis hin zu Engeln (denen einer der schönsten Texte des Bandes gewidmet ist) und Räumen. Diese besondere Wahlverwandtschaft geht bis hin zu Formulierungen, die wie Benjamin klingen und seine Begriffe aufrufen: "Zugleich", heißt es etwa in dem mit "Ausstellung" überschriebenen Abschnitt, "ist die Fotografie Propagandist der Dinge, derer sie sich angenommen hat, wie des Mediums selbst, das Nähe herzustellen vermag, so entfernt die abgebildeten Dinge auch sein mögen." (S. 26) Das ist, man liest es mit, ein Kommentar zu Benjamins Aura-Begriff. Und an anderer Stelle: "Im fotografischen Bild blickt der Melancholiker in eine Vergangenheit, vor der etwas gewesen sein wird." Das ist so schön formuliert, als würde die Fotografie hier dem barocken Trauerspiel begegnen. Was historisch unmöglich ist, gestattet die Theorie. Und letztlich ist es Benjamins Gedanke, dass vergangene Träume in der Zukunft eingelöst und die Vergangenheit damit erlöst werden könnte. Das gilt dann auch für Benjamin, werden doch bestimmte Elemente seiner Fotografietheorie, die bei ihm in seiner recht groben Theorie-Matrix unterzugehen drohen, bei Timm Starl in eine neue Konstellation überführt, in der sie zu ihrem Recht kommen. Starl ist daher kein Benjamin redivivus sondern hat ein Buch geschrieben, das in besonderer Weise Fotografiegeschichte als Theorie – in ihrer doppelten Gestalt von Anschauung und Erkenntnis – zum Sprechen bringt. Daher auch die Konzentration auf die frühen Jahre, die Anfangszeit des Mediums. Hier war es noch ein "Störfall, der mit Licht operiert" (S. 19) und brachte regelrechte Traumbilder hervor, deren Sammlung und Deutung Timm Starl unternimmt, um so die Fotografie in ihrer Vielgestaltigkeit erstehen zu lassen. Das kleine fotografische Alphabet, das er dann schreibt und das von A wie Augenblick oder Ausstellung bis hin zu Z wie Zufall reicht, ist ein richtiges Wörterbuch der fotografischen Bild- und Theoriesprache, deren Bedeutung man nach der erhellenden Lektüre besser versteht.

Ein kleines Postskriptum auf dem Weg vom Netz zum Buch: Auf der Website steht nach wie vor eine Wertschätzung der digitalen Präsentationsform: "Der Vorteil gegenüber einer Buchpublikation liegt darin," so heißt es dort, "dass die Präsentation des Bildmaterials hinsichtlich Umfang wie Form (Format, Farbe) nicht von den ökonomischen Zwängen eines Verlages eingeschränkt werden. Der Leser kann unter anderem entscheiden, inwieweit über die im Text platzierten Abbildungen weitere Beispiele zur Ansicht gelangen sollen. Gleichermaßen sind erweiterte Bildlegenden und die Fußnoten an jenen Stellen zugänglich, wo sie benötigt werden, so dass sich der Sprung ans Ende eines Absatzes oder eines Kapitels erübrigt. Gleichwohl habe ich eine Buchveröffentlichung geplant und angekündigt, die jedoch bis auf weiteres zurückgestellt werden muss." Dem Verlag ist zu danken, dass ökonomische Zwänge nicht zu spüren sind und das Buch die Konkurrenz zum Netz nicht scheuen muss. Als ABC der Fotografie, als Fibel des Fotografischen gehört es gedruckt. Und zugleich könnte (und sollte!) es im Netz weitergeschrieben werden. Auch diese offene intermediale Erscheinung der Fotografie ist Teil ihres Wesens.

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