Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Steffen Siegel

Mehr Licht in die Helle Kammer

Geoffrey Batchen (Hg.): Photography Degree Zero. Reflections on Roland Barthes’s Camera Lucida, Cambridge (Mass.), London: The MIT Press 2009, 19,5 x 23,5 cm, 287 S., zahlreiche s/w-Abb., 29.95 US-$.

Erschienen in: Fotogeschichte 117, 20010

Auch Bücher, weiß das Sprichwort, haben ihr Schicksal. Doch nur wenige dürften jenen fulminanten Erfolg teilen, den seit inzwischen drei Jahrzehnten Roland Barthes’ La chambre claire – in der erstmals 1985 erschienenen deutschen Übersetzung Dietrich Leubes Die helle Kammer – auf sich gezogen hat. Zwar kennzeichnete der Autor selbst seinen umfänglichen Essay im Untertitel noch als Note sur la photographie, die Rezeptionsgeschichte indes hat auf so viel Bescheidenheit seither kaum Rücksicht nehmen wollen. Längst sind Übersetzungen dieses Buches in allen wichtigen Sprachen erschienen, und kaum ein Artikel zur Ästhetik und Geschichte der Fotografie scheint auf einen Bezug zu Barthes’ Gedanken über das Fotografische verzichten zu wollen oder sogar zu können. Und schließlich ist dieses Buch Gegenstand künstlerischer Auseinandersetzung geworden: Aus dem Jahr 2004 stammt die Arbeit „Every Page … from Roland Barthes’ Camera Lucida“ des britischen Fotografen Idris Khan, die – ganz wie der Werktitel annonciert – alle Seiten dieses Buches in einem einzigen Tableau übereinander geblendet zeigt. Dabei steht die visuelle Undurchdringlichkeit eines solchen fotografischen Palimpsests eher im Gegensatz zur Klarheit von Barthes’ eleganter Prosa. Und gerade in dieser kann ein gewichtiger Grund für die rasche Kanonisierung dieses Essays vermutet werden.

Gewiss aber besitzt vor allem die andauernde wissenschaftliche Auseinandersetzung mit La chambre claire keine geringe Bedeutung, war die Vielfalt unterschiedlicher Reaktionen doch nie allein die Angelegenheit einer am Autor Barthes interessierten Philologie, sondern stets zugleich ein wichtiger Indikator für den Fortgang eines sich im Lauf der zurückliegenden drei Jahrzehnte entfaltenden Diskurses über die Fotografie insgesamt. Wohl gerade deshalb ist es genauso nützlich wie ratsam, sich auf den Charakter einer in so rascher Frist klassisch gewordenen „Bemerkung zur Fotografie“ zurückzubesinnen. Zwar kannte Barthes, wie das seinem Buch beigegebene, im Übrigen recht knappe und unübersehbar eklektische Literaturverzeichnis offen legt, wichtige Stimmen des Diskurses: etwa Gisèle Freund und Susan Sontag, Beaumont Newhall und Pierre Bourdieu. Zitiert oder auch nur indirekt auf sie verwiesen hat er jedoch an kaum einer Stelle. Die Begriffe – allen voran die berühmt gewordene Dichotomie von „studium und punctum“, aber auch die folgenreiche Formel „ça a été“ – mit denen Barthes seine Wahrnehmung des Fotografischen einzukreisen suchte, sind gerade nicht an älteren fotografietheoretischen Positionen ausgerichtet, sondern stammen aus dem Kosmos von Barthes’ eigener Bildästhetik. Nicht allein thematisch, sondern eben auch methodisch ist dieses Buch ein ungewöhnlich persönlicher Entwurf.

Ob hierin der Grund für jene Frustration liegt, die Geoffrey Batchen mit Blick auf dieses Buch beschreibt? Zwar sei La chambre claire „perhaps the most influential book yet written about the photographic experience“ (S. 3), doch seien, so Batchen weiter, alle, die in Barthes Nachfolge stehen, „unable to get beyond it“ (ebd.). Man muss dieser pessimistischen Bemerkung nicht ohne weiteres beipflichten. Und gewiss bestand und besteht kein Mangel an kritischen Stimmen, die dem Grad an Assoziation und Subjektivierung der Bildwahrnehmung, wie sie Barthes in seinem Essay betreibt, wenig abgewinnen konnten. Am deutlichsten vielleicht formulierte es bereits 1985 Jane Gallop: „Barthes’s sense of photograph is both very mystical and very naive.“ (S. 53) Gerade deshalb aber ist es mit Nachdruck zu begrüßen, dass Batchen in einem – wie bei seinen Bücher stets – äußerst elegant gestalteten Band alles in allem vierzehn Positionen versammelt hat, die der kritischen Auseinandersetzung mit Barthes’ Ästhetik der Fotografie gelten. Was über Jahrzehnte im deutschsprachigen Raum mit den vielen hundert Bänden aus der Reihe „Wege der Forschung“ von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt vorgelegt worden ist, scheint neuerdings in den Vereinigten Staaten eine Renaissance zu erleben: October Files heißt eine Serie von bislang zehn Bänden, die bei MIT Press erscheint und in der wichtige Stationen der Kunstkritik zu je einer Künstlerin oder einem Künstler der Moderne sowie Postmoderne versammelt und neu aufgelegt werden.[i]

Eben diesem Modell folgt Batchens Sammelband, der im selben Verlag, aber außerhalb der genannten Reihe erscheint und neun Reprints älterer Artikel aus den Jahren 1982 bis 2009 sowie fünf Originalbeiträge enthält. Man ginge wohl zu weit, würde man sich von Photography Degree Zero die Chance auf zahlreiche Wiederentdeckungen versprechen. Batchens Auswahl fiel in aller Regel auf Texte, die bereits zuvor an prominenter Stelle, zumeist in den führenden amerikanischen Periodica wie October, Afterimage, Art History, Representations, Critical Inquiry etc., erschienen sind. Und auch die Namen der Beiträgerinnen und Beiträger lesen sich nicht wie Geheimtipps, sondern eher wie ein Who Is Who der US-amerikanischen Kunstkritik: Unter ihnen finden sich etwa Victor Burgin und Michael Fried, James Elkins und Rosalind E. Krauss. Ihren Wert gewinnt eine solchen Sammlung älterer wie neuerer Essays aber gerade dann, wenn man sie als eine Retrospektive der Kunstkritik liest, die die Unebenheiten und Widersprüche, aber auch die sich zu Topoi verdichtenden Wiederholungen und Stereotype in nunmehr drei Jahrzehnten Rezeptionsgeschichte nicht negiert, sondern absichtsvoll nebeneinander stellt. Es ist eine doppelte Annäherung, die Batchens Band im Ganzen gestattet: Zum Interesse an Barthes’ La chambre claire und den hierdurch entzündeten Reflexionen im engeren Sinne tritt eine Neugier, die sich ganz allgemein für den „Weg der Forschung“ zur Fotografie richtet. Und gewiss keine unglückliche Koinzidenz ist es, dass sich dieser Weg – wie Batchen in seiner Einleitung zurecht betont (S. 17–19) – zu eben jenem Zeitpunkt endgültig zu einer Hauptstraße jüngerer Kunstkritik weitet, da Barthes’ Buch erstmals erschienen ist.

Bei eingehender Lektüre der von Batchen kompilierten Artikel fällt ins Auge, wie häufig von Barthes’ Einzelgängertum die Rede ist. Gemeint ist hierbei nicht allein, was bereits in der oben zitierte Bemerkung des Herausgebers über die Unmöglichkeit, über La chambre claire hinauszukommen, anklang, sondern insbesondere Barthes’ eigene Bereitschaft, ihm vorgängige Literatur zu rezipieren – oder eben auch nicht. Margaret Olin spricht es genauso pointiert wie ernüchtern aus: „But actually, Barthes’s studium was not very studious; he adapted his remarks from the commentary on the photograph in The Nouvel Observateur, a special issue on photography that was the source for many of the photographs in Camera Lucida.“ (S. 78) Es kann daher wohl als geradezu sympathischer Versuch einer Ehrenrettung des Autors Barthes gelten, wenn Margaret Iversen vorschlägt, in einem solchen Verhältnis zum fotografietheoretischen Diskurs, das eher auf Abstand setzt denn auf eingehendere Kenntnis der Literatur, einen an Descartes geschulten Gestus des programmatischen Neubeginns zu sehen (S. 57). Die von Barthes errichteten Referenzen jedenfalls weisen ganz entschieden in andere Richtungen: zunächst gewiss auf Sartre, genauer: auf dessen Studie L’imaginaire – eben diesem Buch widmet Barthes im Übrigen ja auch seinen eigenen Essay. Sodann natürlich auf Proust, auf Freud und Lacan; vor allem aber auf das bildkritische Œuvre von Barthes selbst. Bereits der im Titel des Sammelbandes angesprochene „Nullpunkt“ ist jedem Barthes-Leser als Anspielung auf dessen allererstes, 1953 erschienenes Buch Le Degré zéro de l’écriture leichthin durchschaubar.

Angelegt ist mit einer solchen Reverenz im Gewand einer Referenz aber zugleich ein Bogen, der die Schriften Barthes’ im Ganzen überspannt und zusammenführt. Barthes’ Nachdenken über das Fotografische ist, wie eine Mehrzahl der Beiträge in Batchens Retrospektive betont, jedenfalls nur dann angemessen zu begegnen, wenn La chambre claire, so singulär oder gar auratisch sich der Essay geben mag, in der ideellen Logik einer mehr als ein Vierteljahrhundert währenden Auseinandersetzung um den Status des Bildes betrachtet wird. Was spätestens in den Mythologies von 1957 mit einzelnen kurzen Artikeln einsetzt, findet sich im letzten zu Lebzeiten publizierten Buch in größerer Ausführlichkeit ausgearbeitet und wurde durch den Unfalltod des Autors gleichwohl eher abgebrochen, als dass es hätte zu Ende geführt werden können. Bereits ein Jahr nach Erscheinen der englischen Übersetzung formulierte Victor Burgin jedenfalls prägnant die grundlegende und kaum aufgelöste Spannung, an der sich alle von Barthes geführten Auseinandersetzungen abzuarbeiten suchten: „Barthes’s particular paradox is born of the uneasy union of two inherently contradictionary discourses: semiotics and phenomenology.“ (S. 35)

Dass Barthes selbst Hinweise auf mögliche weitere Anschlüsse zur Ausarbeitung einer Theorie der Wahrnehmung des fotografischen Bildes gab, wird vor allem dann deutlich, wenn man den erstmals 2004 publizierten Artikel „Buddha Barthes“ von Jay Prosser liest. Prossers These, wonach La chambre claire „Barthes’s most felt Buddhist text“ (S. 93) sei, wird nur dann überhaupt verständlich, wenn man zur französischen Originalausgabe greift und diese strikt von ihrem Ende her liest. Denn die letzten Sätze dieser Ausgabe – auf der Umschlagrückseite angebracht – sind ein Zitat des tibetischen Buddhisten Chögyam Trungpa, das in den meisten Ausgaben – unter ihnen auch jene im Suhrkamp-Verlag – kurzerhand unterschlagen wird. Es ist der Zusammenhang von Erleuchtung und Tod, der hier ein weiteres und letztes Mal zur Sprache kommt und nun seine ausdrücklich buddhistische Wendung erfährt. Was bereits in früheren Büchern Barthes anklang, wird nun zum Stilmittel der Subjektivität, die anhand eines diskursiven Wechsels nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten zur Beschreibung des Wahrgenommenen sucht. In ähnlich folgenreicher Weise ist im Übrigen der Auftakt des Buches in zahlreichen Übersetzungen (neuerlich auch jene im Suhrkamp-Verlag) beschnitten worden. Der französischen Originalausgabe wurde als einziger farbiger Fotografie ein Frontispiz beigegeben, das mit Polaroïd von Daniel Boudinet einen verschlossenen Vorhang zeigt, durch den sich die Umrisse eines dahinter liegenden Fensters abzeichnen. In den meisten Übersetzungen wird die Suche nach dem berühmt gewordenen Wintergarten-Bild der Mutter als jungem Mädchen gewiss ergebnislos bleiben. Das Spiel aus Zeigen und Verbergen jedoch, das Barthes in der von ihm noch betreuten Erstausgabe einrichtete, legt mit der luziden Wahl des Frontispiz’ immerhin eine Spur, wo diese unsichtbar bleibende wichtigste Fotografie des gesamten Essays zu vermuten sein dürfte.

Jede Anthologie, und gewiss auch die hier besprochene, besitzt ihre blinden Flecken. Umso mehr muss begrüßt werden, dass Batchens Auswahl nicht exklusiv auf Artikel fiel, die an jene von Barthes diskutierten, längst klassischen Probleme der Fotografietheorie anschließen, sondern überdies eben auch auf Texte, die hiervon einen Schritt zurücktreten und sich, wie dies Shawn Michell Smith tat, etwa für „manifestations of sexual and racial inquietude“ (S. 243) in Barthes „Bemerkung zur Fotografie“ interessieren. Zwar konstatiert Batchen in seiner Einleitung als Herausgeber dieser Sammlung, dass dieses Buch eine „exclusively Anglo-American perspective“ (S. 4) einnehme, begründet oder gerechtfertigt wird dies jedoch nicht. Gewiss kann man es künftigen Anthologien überlassen, diese Einseitigkeit zugunsten französischer, deutschsprachiger und anderer Stimmen auszugleichen, bedauerlich ist ein solches Ungleichgewicht aber doch. Denn wie international die Debatte um Geschichte und Ästhetik des Fotografischen tatsächlich ist und wie entscheidend dieser Diskurs von Barthes’ Schriften profitiert hat, kann auf der Basis von Batchens Auswahlprämisse der Englischsprachigkeit notwendigerweise nur verzerrt deutlich werden. Gerade dies aber hatte doch eigentlich der Herausgeber in Aussicht gestellt: Die Geltung eines Buchs sowie seines Autors zu erkunden, die zweifellos internationalen Rang errungen haben.


[i] Mit einem Interesse für die Fotografie ist von besonderer Relevanz: Johanna Burton (Hg.): Cindy Sherman, Cambridge (Mass.), London 2006.

 

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