Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Ulrike Matzer  

 

Blicke hinter die Bilder

 

Mattie Boom, Ger Luijten, Hans Rooseboom (Hg.): Rijksmuseum Studies in Photography Vol. 1-4: Amsterdam: Rijksmuseum / Nieuw Amsterdam 2007/2008 – je 21 x 26,5 cm, 60 S., ca. 45 Abb. in Farbe, gebunden – 22,95 Euro

Vol. 1/2007: Christiane Kuhlmann: Richard Tepe: Photography of Nature in the Netherlands 1900-1940; Vol. 2/2007: Laetitia Dujardin: Ethnics and Trade: Photography in the Colonial Exhibitions in Amsterdam, Antwerp and Brussels; Vol. 3/2008: Rakia Faber: Louis Heldring: Amateur Photographer in the Middle East 1898; Vol. 4/2008: David Odo: Unknown Japan: Reconsidering 19th-century Photographs

 

www.rijksmuseum.nl (über den webshop des Museums zu beziehen).

 

Erschienen in Fotogeschichte 111, 2009

 

"In the great rush to discover the art of photography"s past, we run the risk of destroying its history", mahnte Abigail Solomon-Godeau Anfang der 80er Jahre angesichts der Apotheose früher Fotografie im Kunsthandel und Ausstellungsbetrieb.(1) Fotografie, die allein unter dem Label "Kunst" firmiert, scheint lediglich dafür gemacht zu sein, sich an ihr zu delektieren – was eine Fehllektüre sondergleichen ist, da der nivellierende Blick auf vordergründig schöne Bilder deren höchst unterschiedliche Entstehungs-, Gebrauchs- und Wirkungsweisen übersieht.

Die Fotosammlung des Amsterdamer Rijksmuseums wurde erfreulicherweise von Anfang an unter anderen Prämissen betrachtet und behandelt. 1994 übernahm das Haus die nationale Fotokollektion der Niederlande, die wesentlich auf den Beständen zweier privater Sammler, Hartkamp und Diepraam, basiert, wobei die ursprünglich aus konservatorischen Gründen getroffene Entscheidung, die Fotografien einer bestehenden grafischen Abteilung beizugesellen, sich auch inhaltlich als sinnig erwies: In der Zusammenschau mit Druckwerken des Rijksprentenkabinet und den Büchern der hauseigenen Bibliothek erschließt die Fotografie sich in ihrer eng mit der Grafik verquickten Entwicklung und im Rahmen unterschiedlicher dokumentarischer Anwendungsgebiete. Die laufend erweiterte Sammlung umfasst derzeit über 140.000 Bilder, vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert, aber auch bis in die Gegenwart herauf; sie ist international ausgerichtet, aber keineswegs nur aus Meisterwerken bestückt; neben geläufigen Namen findet sich weniger Bekanntes und einiges Anonyme, kein geringer Teil davon sind individuell zusammengestellte Alben oder in kleiner Auflage erschienene Bücher.(2) Auf eine adäquate Forschung wird großer Wert gelegt, was seit 2004 neben der kontinuierlichen kuratorischen und editorischen Tätigkeit von Mattie Boom und Hans Rooseboom über die Vergabe halbjährlicher Forschungsstipendien geschieht. Das über den Manfred und Hanna Heiting Fund finanzierte postgraduale Programm richtet sich an ambitionierte FotohistorikerInnen am Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere, die über einschlägige Vorkenntnis und Arbeitserfahrung verfügen. Der Fokus liegt auf der gründlichen Untersuchung eines überschaubaren Konvolutes – sei es eine Fotoserie, ein Album oder Buch – oder auf thematischen Zugängen, die auf die Spezifika der Sammlung zugeschnitten sind. In den je entsprechenden Kontext gebettet, der möglichst die Bestände anderer Institutionen einbezieht, werden die Forschungsergebnisse der StipendiatInnen jeweils in einem Buch publiziert. Die ersten vier Bände dieser Rijksmuseum Studies in Photography liegen nun vor: mit Umsicht redigierte, außergewöhnlich bibliophil gestaltete Bücher mit Abbildungen von ebensolcher Qualität; Bücher, die offenbar als Ausstellungsflächen begriffen werden und dementsprechend die fotografischen Alben so "getreu" wie möglich als Objekte und die Abzüge in ihrer Farbigkeit respektive Tonung wiedergeben. Und auch inhaltlich tut sich allein mit diesen Bänden ein weites Spektrum auf:

Christiane Kuhlmann behandelt in ihrem Buch Fotografie als populärwissenschaftliches Medium, das Verborgenes sichtbar und zugänglich macht: Der lang vergessene Richard Tepe engagierte sich gleichermaßen als Amateurfotograf wie Publizist früh für den Naturschutz in den Niederlanden und hatte sich vor allem auf die Ablichtung von Vögeln in ihren Habitaten spezialisiert. Jenseits reiner Zweckorientierung war Tepe bei seinen Aufträgen für Fachzeitschriften an je eigenwilligen ästhetischen Formfindungen interessiert: Nester erscheinen bisweilen wie Stillleben oder abstrakte Bilder, Eier wie Studien neusachlicher Fotografie, und selbst völlig flaue Fotos sind als solche intendiert und auf getönten Papieren ausbelichtet, um etwa die Tarnung einer Vogelart zu demonstrieren: "Find the Duck" findet sich auf der Rückseite eines Abzugs neckisch notiert.

 

Dass die Entwicklung der Kolonialpolitik eines Landes nahezu Schritt für Schritt über Fotografien zu rekonstruieren ist, beweist die von Laetitia Dujardin verfasste Studie über Kolonialausstellungen in Belgien und den Niederlanden. Auf der internationalen Handelsausstellung 1883 in Amsterdam (am Gelände hinter dem Rijksmuseum ausgerichtet) waren Gruppen indigener Völker in panorama-artigen Szenerien zur Schau gestellt, und entsprechend geben viele Fotografien diese Menschen lediglich als Elemente einer Gruppe wieder. Dem Amateur-Anthropologen Prinz Roland Bonaparte erlaubten Ausstellungen wie diese, "Studienobjekte" für einen Rassenatlas aus allen außereuropäischen Erdteilen abzulichten, ohne das eigene Land verlassen zu müssen. Den fotografischen Imperativen der Niederlande als alter Kolonialmacht stellt die Autorin diejenige Belgiens gegenüber, das erst Mitte der 1880er Jahre den Freistaat Kongo erwarb: Wurden in Antwerpen Kongolesen anfangs noch als Gäste vorgestellt und als Charaktere porträtiert, so geben die Bilder der zweiten Schau in der Stadt 1894 bereits eine konzertierte Propaganda wieder: Aufnahmen von Hommes sauvages und schmucknarbigen Femmes congolaises markieren Menschen als zu zivilisierende.

 

Die Routen einer Reiseindustrie ins Heilige Land entlang, die sich in den 1860er Jahren etablierte, bewegt Rakia Faber sich mit der Untersuchung der Eindrücke eines frühen Amateurfotografen. Verglichen mit den meisten damaligen Knipserbildern, die im häuslichen Umfeld entstanden, signalisiert diese visuelle road map einer Pilgerreise im Jahr 1898 den Beginn neuer fotografischer Verhaltensweisen, die das Ende vieler Atelierbetriebe mit sich brachten. Allerdings ähneln die Aufnahmen großteils einem bestehenden visuellen Repertoire: Fotografierende Pilger hatten meist dieselben Reiseführer in Händen und hielten sich an dortige Vorgaben und -bilder.

 

Ebenfalls einem Album, das als Andenken an den wohl längeren Aufenthalt in einem anderen Land entstand, widmet sich David Odo in seinem Band: ein Set in Japan aufgenommener Fotografien, datierend Mitte der 1880er Jahre, das zwar ebenso die Klischees zwischen Tempeln, Kirschblüten und Geishas wiedergibt, vorwiegend aber Bilder, die auf Arbeitsalltage und Randständiges weisen und den modernistischem Kurs des Landes immerhin ahnen lassen. Während das, was die meisten Museen der westlichen Welt an handkolorierter japanischer Fotografie in ihren Beständen hegen, dezidiert für einen touristischen Markt produzierte Ware ist, kursierte innerhalb Japans durchaus anderes: Bilder, deren sich die damalige Regierung als Paraphernalie bediente, um eine Politik der "Zivilisierung und Aufklärung" voranzubringen.

"Photographs are far more complicated than their surface images might suggest", merkt der Autor, ein Anthropologe und Experte für Ostasien, an einer Stelle an. In der Tat " und dementsprechend wird in allen vier Studien gründlich hinter die Oberfläche von Bildern geblickt, um die Absichten, die Ideologien und Ökonomien dahinter freizulegen. Exemplarisch je einen Themenbereich umfassend, geben sie ein Exempel dafür ab, wie kulturwissenschaftlich ergiebig mit fotografischen Bildern zu arbeiten wäre. Was die Bücher einzig zu wünschen übrig lassen, ist dass das Forschungsprogramm auch in Zukunft fortgeführt wird.

 

 

(1) Abigail Solomon-Godeau: A Photographer in Jerusalem, 1855: Auguste Salzmann and His Times (1981), in: Photography at the Dock. Essays on Photographic History, Institutions, and Practices. With a Foreword by Linda Nochlin. University of Minnesota Press, Minneapolis 1997 (11984), S. 168.

 

(2) Vgl. Mattie Boom & Hans Rooseboom (Eds.): Een nieuwe Kunst. Fotografie in de 19de eeuw. De Nationale Fotocollectie in het Rijksmuseum, Amsterdam / A New Art. Photography in the 19th century. The Photo Collection of the Rijksmuseum, Amsterdam. Ausstellungskatalog Rijksmuseum & Van Gogh Museum Amsterdam, Amsterdam – Gent 1996.

 

 

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