Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Timm Starl

Konstruktionen des Sofortbildes

Polaroid als Geste – über Gebrauchsweisen einer fotografischen Praxis, hrsg. von Meike Kröncke, Barbara Lauterbach und Rolf F. Nohr, Ostfildern-Ruit: Hatje-Cantz, 2005, 21,5 : 17,1 cm, 167 (+1) S., 131 meist farbige Abb., Franz. Broschur, – 24,80

Erschienen in Fotogeschichte 100, 2006

Wie allen fotografischen Unikaten war (beziehungsweise ist) dem Polaroid nur eine begrenzte Lebensdauer beschieden. Allerdings übernahmen solche Verfahren in bestimmten Stadien medialer Entwicklung Funktionen, die vom Negativ/Positivverfahren nicht oder nur unzureichend erfüllt werden konnten. Die Daguerreotypie propagierte eine neue Bildwelt mit detailscharfen Ansichten, wie sie Talbots Kalotypien nicht hervorzubringen imstande waren. Die Ferrotypie – Bilder auf Metallblech – bediente bis zum Aufkommen der Automaten mit Selbstbildern auf Papier das Jahrmarktpublikum und Ausflügler, die ein rasch verfügbares Souvenir nach Hause nehmen wollten. Die Autochrome befriedigten die Gestaltungsbedürfnisse jener sich elitär gebärdenden Amateurfotografen, die zuvor ihre Edeldrucke eingefärbt hatten und ab 1907 zu dem exklusiven Farbbildverfahren griffen.

Neben oder eigentlich hinter den wechselnden Bildbedürfnissen und Gebrauchsweisen von Einzelstücken steht jedoch ein konstitutives Merkmal des Fotografischen. Es ist die Fähigkeit der zunächst einfachen und dann vielfachen Wiedergabe eines Vorbildes: als Negativ im Moment der Aufzeichnung sowie im Prozess der Umkehrung in ein Positiv. In diesen beiden Stadien der Reproduktion verwirklichen sich die Ansprüche der Produzenten und Nutzer der Bilder und vergegenständlichen sich die Sichtweisen der Zeit. Die Einmaligkeit eines positiven Bildes beschränkt seinen Radius, was im privaten Bereich der Erinnerungsbilder ebenso ohne Bedeutung ist wie bei den Probe- und Kontrollbildern der professionellen Fotografen. Soll Öffentlichkeit hergestellt werden, bedarf es der Mobilität des Publikums, das sich zu den Einzelbildern begeben muss, um ihrer ansichtig zu werden. Insofern eignen sich Polaroids als Mittel für künstlerisch operierende Fotografen und für Künstler, die sich fotografisch ausdrücken wollen. Und mit eben diesem Bereich beschäftigt sich in erster Linie der vorliegende Band, der nach den Referaten einer Tagung der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und einer Ausstellung des Museums für Fotografie am gleichen Ort entstanden ist.

Dabei wird der Frage des Unikats in Kunst und Fotografie ebenso wenig nachgegangen wie jener des Formats, die ja keine unerhebliche Rolle in den kompositorischen Überlegungen spielt, wenn die Bildmaße durch die Apparatur vorgegeben sind. Die technischen Bedingtheiten und technologischen Entwicklungen sind nur in einem einzigen Beitrag – einem hervorragenden Text von Daniel Gethmann – angesprochen. Und nur ganz nebenbei wird eingegangen auf den Unterschied beim Anblick eines Abzuges gegenüber dem Vorliegen eines fertigen Polaroids, wenn sich der Realitätsgehalt an den noch vorhandenen Gegenständen messen lässt und der Betrachter nicht auf vage Erinnerungen angewiesen ist. Zwar stehen all diese Aspekte irgendwie unausgesprochen im Hintergrund, gleichsam wie Gewissheiten einer Geschichte außerhalb der Kunst, auf die notwendigerweise nicht mehr hinzuweisen ist. Worauf sich die Ausführungen wesentlich beschränken, ist im Titel präzise genannt: Es ist der besondere Standpunkt gegenüber dem fotografischen Akt, den Bildautoren einnehmen, wenn sie mit Polaroids arbeiten.

Denn die spezifischen Gegebenheiten des Sofortbildes weisen in beide Richtungen: auf ihren fotografischen Charakter und die Tendenz, diesen in mancher Hinsicht zu unterlaufen. Dabei argumentieren die Texte weitaus überzeugender als die Bildbeispiele mit meist konzeptueller Ausrichtung. Gelingt ihnen doch, jene besondere "Handlung", die zwischen der Betätigung des Auslösers und dem fertigen Bild liegt, als einen Vorgang darzustellen, den andere fotografische Prozeduren nicht kennen. Wobei die These im Vordergrund steht, dass sich das Ritual der Herstellung in das bildliche Ergebnis einschreibt. Dies ist allerdings den meisten Produkten nicht anzusehen, was wiederum bei Fotografien nicht außergewöhnlich ist. Und so sprechen die Autoren der Texte von etwas anderem, als die Illustrationen artikulieren. Nicht trotz, sondern wegen dieser Differenz liefert diese Veröffentlichung zahlreiche Anregungen – insbesondere für jene, die gerne "die Fotografie denken" und nicht nur Bilder interpretieren wollen.

 

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