Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Anton Holzer

166 Jahre und die ganze Welt

Robin Lenman (Hrsg.): The Oxford Companion to the Photograph, Oxford : Oxford University Press, 2005, 28,5 : 22,5 cm, 769 S, 48 Farbtafeln, 250 Abbildungen in S/W und ca. 40 Diagramme, Gebunden mit Schutzumschlag, – 60,90

Erschienen in Fotogeschichte 100, 2006

Ist ein Lexikon zur Fotografie im Jahr 2005 – noch dazu eines, das 166 Jahre und gleich die ganze Welt umfassen will – nicht ein anachronistisches Unterfangen" Die Welt der Fotografie in ein Buch zu pressen, mutet auf den ersten Blick an wie ein aussichtsloses Unternehmen an, ein Vorhaben, das mehr dem enzyklopädischen Charakter des 19. als dem des beginnenden 21. Jahrhunderts geschuldet zu sein scheint. Und doch ist das vorliegende Werk, das an der Wende zum neuen Jahrtausend begonnen wurde, eines, das für sich beansprucht, auf der Höhe der Zeit zu sein. Der Herausgeber des Oxford Companion to the Photograph, Robin Lenman, emeritierter Historiker der Universität Warwick, beginnt seine Einführung zum knapp 800 Seiten starken Band zwar mit der Feststellung, in den sechs Jahren, die er mit der Arbeit an diesem Projekt zugebracht habe, habe sich die Welt der Fotografie grundlegend geändert. Die digitale Aufbruchstimmung, die noch 1999 vorgeherrscht hatte, sei längst dem vollends etablierten digitalen Zeitalter gewichen. Kaum eine digitale Kamera, die 1999 in Gebrauch war, ist heute noch einsatzfähig, kaum ein Computerprogramm, das vor sechs Jahren entwickelt wurde, wird heute noch verwendet. Einige der großen Fotofirmen, die sich auf die analoge Fotografie spezialisiert hatten und 1999 noch starke Lebenszeichen von sich gaben, sind heute bankrott oder nahe am Kollaps. Bedeutet dieser rasante Umbruch also: alles neu in der Welt der Fotografie" Ganz und gar nicht, beteuert Lenman. Wenn man nicht eine die Fotogeschichte nicht allein auf eine Technikgeschichte reduziert, sondern mit den Begriffen einer Kultur- und Wahrnehmungsgeschichte arbeitet, wenn die Fragen des Gebrauchs der Bilder ernst genommen werden, stellt sich der digitale "Bruch" als weit geringer dar als oft angenommen. Robin Lenman hat sich also durch die digitale Zeitenwende in seinem Sammeleifer nicht bremsen lassen. Mit Hilfe eines international weit gespannten Netzes an Ratgebern (Advisory Editors) und unter Zuarbeit von 144 Autorinnen und Autoren, entstand ein enzyklopädisches Großwerk, das sich sehen lassen kann: über 1600 Einträge umfasst das Nachschlagewerk davon sind über 800 biografische Texte. Aber nicht der Umfang ist das Qualitätsmerkmal dieses Bandes, sondern vor allem sein inhaltlicher Zuschnitt. Dankenswerter Weise legt der Herausgeber den Bauplan des Lexikons in seiner Einführung offen. Auch das macht das Besondere dieses Buches aus: dass die Konturen des Sammlungsgebietes, die Schwerpunkte und die Fragestellungen, aber auch die Grenzen des Projekts sichtbar gemacht werden. Auf diese Weise enthält das Buchprojekt ein erkennbares Rückgrat, das den Inhalt nicht als das einzig mögliche Ergebnis der Recherche deklariert, sondern sich als Produkt von Ein- und Ausschlüssen, von strategischen Entscheidungen zu erkennen gibt. Nebenbei: auch andere Nachschlagewerke folgen solchen Grundsatzentscheidungen, was wichtig und was unwichtig ist, sie schließen Informationen aus und ein, ergänzen und streichen. Viele von ihnen finden es aber nicht der Mühe wert, diese Weichenstellungen ausführlich zu thematisieren. Auf diese Weise wird der Eindruck einer naturwüchsigen Sammlung erweckt, Brüche, Konflikte, Leerstellen kommen nicht vor. Es lohnt daher, die Einführung von Robin Lenman etwas genauer zu lesen, um das vorliegende Unterfangen auch in seiner Struktur kenntlich zu machen.

Bemerkenswert ist zunächst, dass Lenman sich weder mit einer reinen Kunstgeschichte des Mediums begnügt und auch keine reine Technikgeschichte in den Vordergrund stellt. Erst recht strebt er nicht eine Geschichte der großen Protagonisten an, also der bekannten Namen in der Geschichte der Fotografie. Bewusst wird – und das mag angesichts der aktuellen fototheoretischen Debatten auf den ersten Blick antiquiert erscheinen – die Geschichte der Technik nicht ausgeblendet, sondern sogar sehr ausführlich behandelt (von Einträgen wie "Adobe Photoshop" bis "Zoom"). Bemerkenswert ist auch die geografische Reichweite der Arbeit. Angestrebt wurde, die herkömmliche Fixierung auf Europa und die USA bewusst zu überschreiten und auch in der Fotografiegeschichte weniger bekannte Regionen gebührend zu würdigen. Damit rücken auch Gegenden, die in herkömmlichen Lexika nur am Rande vorkommen, in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. Ausführliche Einträge gibt es zur japanischen, aber auch zur indischen Fotografie, ebenso ist die afrikanische Fotografie überdurchschnittlich vertreten, während hingegen der südamerikanische Kontinent eher stiefmütterlich behandelt wird. Behandelt werden nicht nur bisher weniger beachtete regionale Fototraditionen, sondern auch Themen, die mit den dahinter liegenden kolonialen Traditionen zu tun haben (Z.B. die Einträge "Kolonialismus", "Missionarische Fotografie" usw.) und die den fotografischen Blick durchaus in einen widersprüchlichen gesellschaftlichen Kontext einbetten. Oft, erklärt Lenman, waren es nicht einmal so sehr die bekannten postkolonialen Scheuklappen, die die Themen und Einträge geografisch sehr ungleich über den Globus verteilt haben, sondern schlicht und einfach die Schwierigkeit, für abgelegenere Themen geeignete Autoren zu finden. Aber auch für ganze Staaten sei es mitunter schwierig gewesen, Fachleute zu finden, die sich eine Überblicksdarstellung zutrauten (z.B. für Russland). Es ist wohltuend, in der Einleitung nicht allein von hunderten von Erfolgen zu lesen, sondern auch von den Schwierigkeiten, Hürden und Hemmnissen, denen ein derart umfangreiches Projekt wohl oder übel auch ausgesetzt war. Auf diese Weise wird das Mosaikartige des Werkes sichtbar, das nicht zur Gänze wie am Reißbrett entstand, sondern sich im Laufe der Arbeit fortwährend veränderte.

Der Hauptteil des Lexikons ist streng alphabetisch aufgebaut. In der Hauptsache sind es zwei Formen von Einträgen, die hier aufeinander treffen: thematische (darunter auch technische Aspekte des Mediums) und biografische. Dazwischen gestreut sind – recht willkürlich verteilt und inhaltlich oft kaum nachvollziehbar gewichtet – Exkurse zu einzelnen Themen. Ebenso sind die 50 Farb- und 250 Schwarzweiß-Abbildungen nur sehr lose mit den Einträgen verbunden. Sie haben vorwiegend illustrativen Charakter. Gelegentlich wäre es vielleicht durchaus möglich gewesen, die inhaltliche Argumentation enger an die Bilder zu knüpfen. Aber, auch das gesteht Lenman offen zu, für die Bildrechte stand nur ein beschränktes Budget zur Verfügung und die Autoren schrieben ihre Texte offenbar ohne explizite Verweise auf Bildvorlagen. Diese wurden erst später "dazurecherchiert". Anders, das muss man gerechterweise einräumen, wäre diese enorme Arbeit wohl auch nicht zu bewältigen gewesen. Die einzelnen Teile des Lexikons sind in Form von nützlichen Querverweisen miteinander verbunden. Eine Reihe von Indizes erleichtert die Arbeit mit dem Werk, darunter eine umfassende Übersicht nach Themen, eine Chronologie (die vielleicht entbehrlich wäre), einen Schlüssel der Autorenkürzel (um die Autoren schnell identifizieren zu können), eine Auswahlbibliografie (mit v.a. englischsprachigen Titeln). Nützlich ist auch die Aufstellung wichtiger Internetadressen, sowie der umfassende Personen- und Firmenindex am Ende des Lexikons.

Bewusst hat sich der Herausgeber bei den biografischen Einträgen auf eine Auswahl von 800 Personen begrenzt. Ebenso wie bei den thematischen Einträgen bedeutet das zwangsläufig eine Auswahl und Gewichtung. Gewiss kann man über das eine oder andere Stichwort streiten, aber im großen und ganzen sind viele wichtige Aspekte des Mediums gut abgedeckt. Es wäre natürlich, so argumentiert er, ein Leichtes gewesen, etwa die Auswahl von Larousse (Dictionaire de la Photo, 1996) mit 20.000 Einträgen zu überschreiten, ohne auch aber nur annährend internationale Vollständigkeit zu erlangen. Stattdessen wurde die Anzahl der Einträge bewusst beschränkt, dafür aber wurde Platz geschaffen für weniger bekannte Protagonisten. Auch Nichtfotografen und Unternehmer bzw. Unternehmen, die für die Entwicklung der Fotografie von Bedeutung waren, kommen auf diese Weise vor. Diese Entscheidung ist sehr zu begrüßen, da über die bekannten Fotografen ohnehin genug biografisches Material vorhanden ist. Hingegen dünnt  die Verfügbarkeit von Angaben abseits des Mainstream erfahrungsgemäß schnell aus. Viele der Einträge sind – auch das kommt dem Informationswert des Bandes sehr entgegen – mit weiterführenden Literaturangaben versehen, die in der Regel eine erste Orientierung ermöglichen. Bedauerlicherweise wurden nicht immer die neuesten Literaturangaben ausgewiesen, auch scheint man englischer Sekundärliteratur auch dort den Vorzug gegeben haben, wo diese nicht auf dem letzten Stand ist. Aber das sind nur kleine Einwände, die den Wert und die Brauchbarkeit dieses hervorragenden Werkes nicht wirklich schmälern. "Cool, accurate and unpretentious" – mit diesen Worten wird John Szwarkowskis Einschätzung dieses Lexikons am Umschlag zitiert. Dem ist nichts hinzuzufügen. Und da Fehler oder Ungenauigkeiten bei einem solchen Projekt unvermeidlich sind, werden Leser aufgefordert, Anregungen und Korrekturen an die Redaktionsadresse zu schicken. Die Anschrift ist angegeben.

 

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