Anton Holzer
Editorial, Heft 103, 2007: Die fotografische Erfindung des Balkan
Erschienen in: Fotogeschichte Heft 103, 2007
"Der Balkan", schreibt Richard Wagner in seinem wunderbaren Buch Der leere Himmel. Reise in das Innere des Balkan (2003), "liegt weit hinten, wo Europas Wirklichkeit sich krümmt, könnte man sagen. Geographisch betrachtet, ist das Gebiet eine Halbinsel, am südöstlichen Ende des heutigen Europa, begrenzt im Süden von der Ägäis, im Osten vom Bosporus und vom Schwarzen Meer und im Westen von der Adria." Aber mit geografischen Erklärungen allein, so Wagner, ist dem Balkan ohnehin nicht beizukommen. Komplizierter wird die Sache, wenn wir diese Region im dichten Geflecht der Bilder verorten wollen, die bis heute die Wahrnehmung des Balkan bestimmen.
Das vorliegende Themenheft beschäftigt sich mit Balkanbildern oder genauer: es geht der Frage nach, wie diese Bilder im 19. und 20. Jahrhundert entstanden sind. Der Titel des Heftes, Die fotografische Erfindung des Balkans, ist einem Buchtitel Maria Todorovas entliehen. Ihre nach wie vor grundlegende Untersuchung Die Erfindung des Balkan (1997, dt. 1999) beschäftigt sich mit der Konstruktion der Balkanbilder seit dem 19. Jahrhundert. Während Todorova in ihrer Analyse vor allem auf Textquellen (Reiseführer, Romane, aber auch die Werke der Historiografie u.a.) zurückgreift, stehen hier fotografische Bilder im Mittelpunkt. Einen ersten Schwerpunkt zur Fotografie des 19. Jahrhunderts bildet die frühe ethnografische Fotografie im Südosten Europas, über die immer noch wenig bekannt ist.
Am Beispiel Siebenbürgens und Rumäniens gehen Konrad Klein und Adrian-Silvan Ionescu der Frage nach, wie und warum es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Südosten Europas (und nicht nur hier) zu einem rasanten Aufstieg der folkloristischen und ethnografischen Fotografie gekommen ist. Die beiden Autoren zeigen, dass die "ethnografische Fotografie", die in Wirklichkeit oft eine fotografische Inszenierung und (Wieder-)Erfindung idealisierender Trachten und Traditionen war, auf ein komplexes Geflecht an Interessen und Akteuren (lokale und zugereiste Fotografen, Reisende, Touristen, Händler, Zeitungen und Zeitschriften etc.) zurückgeht. Anhand zweier Fallstudien wird die sich mehrfach überlagernde Geschichte der frühen ethnologischen Fotografie in Siebenbürgen/Rumänien rekonstruiert.
Ein weiterer Beitrag beschäftigt sich mit der fotografischen Entstehung eines orientalischen Albanienbildes am Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhundert. Erzählt wird die im deutschsprachigen Raum bis heute unbekannte Geschichte der Fotografenfamilie Marubi in Shkodra, die ein knappes Jahrhundert lang (von 1856 bis 1944) das Image Albaniens deutlich mitbestimmt hat. Die (Folklore-)Bilder, die nach der Jahrhundertwende als Bildpostkarten verkauft wurden, wandten sich nicht nur an die Reisenden, die orientalische Bilder suchten, sondern auch an ein einheimisches Bürgertum, das in den Jahren der nationalen Befreiungskämpfe bewusst auf inszenierte Traditionen zurückgriff.
Zwei weitere Beiträge führen in die Gegenwart. Sie zeigen, dass es am Balkan keine Gegenwart gibt, die nicht voller Vergangenheit wäre. Monika Schwärzler stellt eine Arbeit des Künstlers Franz Kapfer vor, der uns auf einen scheinbaren Nebenschauplatz führt, in die Ehrenhalle des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums. Was er dort zu Füßen der steinernen Helden aus der Vergangenheit sah, zeigt und entschlüsselt er in seiner Fotoarbeit "zur Errettung des Christentums".
Eröffnet wird das Heft mit einem Beitrag des polnischen Autors und Essayisten Andrzej Stasiuk, der auf zahlreichen Reisen den Balkan durchquert hat. In seiner "balkanischen Fotokiste", die er hier zum ersten Mal öffnet, kommt ein Konvolut zum Vorschein, von dem er sagt: "Ein Kartenspiel aus tausend wertlosen Bildern, das porzellanartige Schimmern von Fuji oder Kodak, der tote Glanz der Wörtlichkeit, so ein Fotograf bin ich."
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