Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie

hg. von Dr. Anton Holzer

Steffen Siegel

Alles auf Anfang

François Arago. Textes de Monique Sicard, Paris: Actes Sud 2012, coll. „Photo Poche“, 19 × 13 cm, broschiert, unpaginiert, 59 Abbildungen, 12,99 Euro.

Erschienen in: Fotogeschichte 126, 2012

Der Seufzer hatte es in sich: „Enfin j’ai vu Mr. Arago.“ Als Daguerre mit diesen Worten am 2. Januar 1839 seinen Brief an Isidore Niépce eröffnete, dürfte er gespürt haben, dass um die Jahreswende ein Zug ins Rollen gekommen war, der sich kaum würde aufhalten lassen. Noch in den letzten Tagen des alten Jahres hatte Daguerre, der zu dieser Zeit vor allem für sein Dioramen-Theater am Boulevard du Temple bekannt war, den Direktor der Pariser Sternwarte persönlich getroffen: Dominique-François Arago. Es war, wie sich auf den ersten Seiten jeder Fotografie-Geschichte nachlesen lässt, eine folgenreiche Begegnung. Bereits am 7. Januar, so ist es im Sitzungsprotokoll der Académie des Sciences notiert, „ergriff Arago das Wort, um der Akademie mündlich einen allgemeinen Eindruck von der schönen, von Herrn Daguerre gemachten Erfindung zu geben, über die beim größten Teil der Öffentlichkeit bislang kaum mehr als irrige Vermutungen herrschen.“

Und eben jener Arago war es schließlich auch, der es im Lauf des Jahres 1839 geschickt verstand, seinen Einfluss nicht allein als anerkannter Wissenschaftler, sondern vor allem als Ständiger Sekretär der Akademie der Wissenschaften und als Parlamentsabgeordneter geltend zu machen,[1] um Daguerre sowie Niépce jene lebenslange Ehrenpension zu verschaffen, die der französische Staat für besondere Verdienste gewährte. Doch verbindet sich mit dem Namen Aragos wohl vor allem der 19. August des selben Jahres. An jenem Tag sprach nicht Daguerre selbst, sondern es war der ihn protegierende Wissenschaftler und Politiker, der in einer öffentlichen Rede technische Einzelheiten zur Daguerreotypie vorstellte und die bis dahin herrschende Geheimniskrämerei um dieses neue Bildmedium endlich beendete.

Keine Überraschung ist es daher, dass nun in einer der verdienstvollsten Buchserien zur Popularisierung der Fotografie-Geschichte endlich auch ein Band über François Arago erschienen ist. Mehr als 150 Bändchen zählt die bei Actes Sud verlegte Serie „Photo Poche“ mit dem charakteristischen, pechschwarzen Umschlag. Inzwischen ist die Reihe in mehrere Rubriken aufgeteilt: Monografien zu einzelnen Fotografinnen und Fotografen werden um thematische Bände ergänzt, die stärker die historische sowie die soziale Dimension des Fotografischen ausleuchten sollen. Doch war die Stärke dieser Kollektion als Ganzes seit jeher nicht allein der Kommentar, sondern überdies eine präzise Auswahl und die leichte Zugänglichkeit wesentlicher Bildquellen der Fotogeschichte in anspruchsvoller Reproduktion.

Umso gespannter muss man daher auf jenen Band sein, der zwar Aragos Namen trägt, aber schlechterdings keine Bilder aus eigener Produktion dieses Wissenschaftlers zeigen kann. Denn als eine Chiffre steht „Arago“ ja nicht für die Bildproduktion selbst, sondern vielmehr für den Anfang eines Diskurses zur Fotografie, der mit wissenschaftlichen und auch journalistischen Mitteln geführt wurde, zugleich aber immer eines ganz wesentlich in sich einschloss: Politik.[2] Das Schicksal des von Arago rücksichtslos marginalisierten Hippolyte Bayard ist hierfür ein sprechendes Zeugnis. Der von Monique Sicard, Wissenschaftlerin am Institut des Textes et Manuscrits modernes des Pariser CNRS, betreute Band wird sich daher vor allem daran messen lassen müssen, wie kritisch er Aragos diskurspolitische Strategien bei der Durchsetzung einer fraglos folgenreichen Erfindung reflektiert.

Von solchen Ambitionen jedoch ist Sicards Kompilation weit entfernt. Als wären in den zurückliegenden Jahrzehnten nicht zahlreiche Untersuchungen erschienen, die sich mit der Idee eines Anfangs, ja einer Begründung der Fotografie methodenkritisch auseinandergesetzt hätten,[3] wird in diesem Bändchen noch einmal genau diese Geburtsgeschichte der Fotografie als ein Ereignis erzählt, das sich nicht allein lokalisieren (Paris) und datieren (1839), sondern dass sich im Grunde auch einer bestimmten Nation (Frankreich) zuschreiben lässt. Vielleicht ist es zu viel verlangt, auf den wenigen Seiten, die für die Einleitung hier überhaupt zur Verfügung standen, eine minutiöse Rekonstruktion von Aragos problematischem Gründungsdiskurs herzustellen. Die hiermit verbundenen Schwierigkeiten werden von Sicard selbst auch erwähnt, ohne dass sie sich aber diesem Desiderat der Fotografie-Geschichtsschreibung näher zugewandt hätte.

Ohnehin aber ist der Hauptteil dieses Bandes einzelnen Fotografien sowie den beigegebenen ausführlichen Bildkommentaren gewidmet. Das sich hier entfaltende Album kann man auf zweierlei Weise nehmen: als eine Sammlung von meist sehr schönen Reproduktionen, die in überwiegender Zahl wichtige Aufnahmen aus der Frühzeit des Mediums nun in vorzüglicher Qualität leicht zugänglich macht. Oder aber als eine kuriose, in Auswahl wie Reihung vollkommen irritierende Zusammenstellung. Nicht allein lässt die Anordnung der Bilder jeden chronologischen oder systematischen Aspekt vermissen. Vor allem ist bei der Einrichtung dieses Portfolios vollkommen außer Blick geraten, wovon diesem Band doch eigentlich erzählen sollte: François Aragos Anteil an der frühen Fotografie-Geschichte.

Irgendwie hängt ja immer alles mit allem zusammen. So mögen etwa zum Beispiel auch die von Johann Carl Enßlen in Dresden unternommenen Versuche mit Fotogrammen auf Salzpapier (von denen der Band eines zeigt) mit den von Arago in Paris der Akademie und dem Parlament vorgelegten Daguerreotypien in einem ideellen Zusammenhang stehen. Nimmt man Sicards Auswahlband als ein Ganzes, das heißt in der hier inszenierten Folge als einen Bildessay, so arbeitet er einem vollkommen problematischen, da undifferenzierten Begriff von Fotografie zu. An keiner Stelle zeigt er sich interessiert oder sensibel für die erheblichen technologischen und damit auch ästhetischen Unterschiede der vielen verschiedenen fotografischen Verfahren aus der Anfangszeit dieses Mediums.

Ein Ärgernis ist all dies vor allem aus zwei Gründen: Zum einen wird hier, im leicht greifbaren Taschenbuch zur Fotografiegeschichte, eine überholte Sicht der Dinge popularisiert, die weiter entfernt vom Stand der Forschung kaum sein könnte. Und zum anderen ist zu gleicher Zeit eine viel attraktivere Idee vertan worden: Denn wenn Arago, dessen Namen dieses Buch ja immerhin trägt, selbst nicht als Fotograf in Erscheinung getreten ist, so doch sehr früh bereits als Besitzer von Fotografien. Eine dichte Beschreibung von Aragos medienpolitischer Initiative des Jahres 1839 und eine quellenkritische Analyse der hierbei (und auch später noch) entstandenen Texte hätte um Reproduktionen gerade jener äußerst selten abgebildeten Daguerreotypien ergänzt werden können, die Daguerre selbst seinem einflussreichen Förderer Arago zum Geschenk machte und die dieser seinerseits bereits 1841 dem Museum in seiner Heimatstadt Perpignan anvertraute.


[1]   Zur Vielfalt von Aragos Tätigkeiten siehe vor allem François Sarda: Les Arago. François et les autres, Paris 2002.

[2]   Anne McCauley: François Arago and the Politics of the French Invention of Photography, in: Daniel P. Younger (Hg.): Multiple Views. Logan Grant Essays on Photography 1983–89, Albuquerque 1991, S. 43–69. Die französische Fassung dieses wegweisenden Artikels ist in den Bibliotheken (und inzwischen auch im Internet) leichter zugänglich: dies.: Arago, l’invention de la photographie et le politique, in: Études photographiques, Heft 2 (Mai 1997), S. 6-43. Sowie André Gunthert: Spectres de la photographie. Arago et la divulgation du daguerréotype, in: Les Arago, acteurs de leur temps, Perpignan 2010, S. 441-451.

[3]   Siehe unter anderem Geoffrey Batchen: Burning With Desire. The Conception of Photography, Cambridge (Mass.), London 1997. Mary Warner Marien: Photography and Its Critics. A Cultural History, 1839–1900, Cambridge 1997. François Brunet: La naissance de l’idée de photographie, Paris 2000.

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